Am 9. Mai feiert Russland den Sieg über Nazi-Deutschland 1945. Für Kremlchef Wladimir Putin (70) ist der Tag von zentraler Bedeutung. Er ist das Herzstück seiner Vision der russischen Identität. Gleichzeitig will er der Nation zeigen, dass er immer noch stark ist und alles unter Kontrolle hat.
Nur ist diesmal alles anders. Russland ist nicht stark, es zittert. Im ganzen Land ist die Anspannung spürbar. In sechs Regionen wurden die Paraden zum Tag des Sieges abgeblasen. Grund sind Sicherheitsbedenken.
Die jüngsten Drohnenangriffe und Sabotageakte auf russischem Boden haben in Russland Panik ausgelöst. «Die Nervosität ist grösser als je zuvor», zitiert der britische «Guardian» einen Insider aus dem Büro des Moskauer Bürgermeisters zu den Vorbereitungen für den 9. Mai.
Drohnenangriff auf den Kreml verunsichert Putin
Das Unsterbliche Regiment, eine äusserst beliebte Prozession von Menschen, die Fotos ihrer Verwandten tragen, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben, wurde abgesagt. Die üblichen Feuerwerksshows wird es an einigen Orten auch nicht geben.
«Im gegenwärtigen Kontext wird die Absage der Paraden als ein weiteres Zeichen dafür gewertet, dass die Dinge sehr schlecht laufen», sagte Kreml-Kenner Abbas Galjamow (50), der einst Reden für den Präsidenten schrieb, dem Radiosender Echo Moskvy.
Die Serie mysteriöser Vorfälle enthüllt Risse in Putins Fassade der Stärke. Denn die jüngsten Vorfälle scheinen auch den vermeintlich starken Mann im Kreml verunsichert zu haben. Er traf sich mit seinem Sicherheitsrat, um den Ablauf der Feierlichkeiten zu besprechen. Ein höchst ungewöhnlicher Schritt. Der Rote Platz ist seit zwei Wochen für die Öffentlichkeit gesperrt, Strassen sind verbarrikadiert.
Vor einem Jahr wollte Putin am 9. Mai den Sieg über die Ukraine verkünden – doch daraus wurde nichts. Noch immer liefern sich seine Truppen erbitterte Kämpfe mit den ukrainischen Soldaten. Ein erfolgreicher Ausgang der «Spezialoperation» ist nicht in Sicht. Wichtiges Kriegsgerät wurde in der Ukraine zerstört oder zurückgelassen. Das wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bei den Paraden zeigen. Der Schein schwindet.
Prigoschin rastet aus
Viele Soldaten wurden im Krieg getötet oder verwundet. Manch einer fragt sich laut, ob der Kreml mit der Absage der Paraden auch verhindern will, dass Menschen mit Fotos ihrer in der Ukraine verstorbenen Verwandten auf die Strasse gehen und so ein wahrheitsgemässes Bild von Russlands Kriegstoten abgeben.
Die Besorgnis im Kreml wird noch durch den Söldnerführer Jewgeni Prigoschin (60) verstärkt. Am Donnerstag machte er die russische Militärführung für die hohen Verluste unter seinen Kämpfern in der Ukraine verantwortlich. Er drohte mit dem Rückzug seiner Truppen aus der umkämpften Stadt Bachmut im Osten der Ukraine am 10. Mai, also nur einen Tag nach Putins Siegesparade in Moskau. Eine Drohung, die der Geschäftsmann wohl vorerst nicht wahr machen wird. Sollte Prigoschin seine Kämpfer, die nach eigenen Angaben grossen Anteil an den wenigen Erfolgen der russischen Streitkräfte haben, jedoch tatsächlich irgendwann abziehen, wäre dies ein empfindlicher Treffer für Putins Ukraine-Pläne.
Am 9. Mai 2022 hatte Putin mit Blick auf die Ukraine verlautbart: «Der Sieg wird unserer sein, wie im Jahr 1945.» Angesichts der kommenden ukrainischen Gegenoffensive, die die Russen dazu gezwungen hat, auf ihrem eigenen Territorium Verteidigungsanlagen zu errichten, wirkt diese Aussage heute nahezu peinlich, offenbart sie doch, in welcher Parallelwelt Putin lebt. Die Realität hat den russischen Präsidenten ein Jahr später eingeholt.