Darum stehen so viele Russen hinter dem Krieg
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Russische Blick-Journalistin:Darum stehen so viele Russen hinter dem Krieg

«Wir sind auch Putins Opfer»
So unterschiedlich stehen die Russen zum Krieg in der Ukraine

Russlands Gesellschaft ist seit der Invasion in der Ukraine gespalten – die einen verteidigen den Krieg, die anderen verurteilen ihn. Auch die Reaktion des Westens mit den Sanktionen steht in der Kritik.
Publiziert: 09.05.2022 um 01:20 Uhr
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Aktualisiert: 09.05.2022 um 08:02 Uhr
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Wladimir Putin regiert mit harter Hand.
Foto: DUKAS
Anastasia Mamonova

Der Sieg über Nazi-Deutschland gehört für das russische Volk zu den wichtigsten Meilensteinen in der Geschichte. Der 9. Mai – der Tag des Sieges – wird nirgends derart gefeiert wie in Russland. In rund 350 Städten finden Anlässe statt, Militärparaden gibts in rund 30 Städten.

Es ist aber längst nicht mehr nur ein Tag des Gedenkens. Insbesondere seit der Herrschaft des russischen Präsidenten Wladimir Putin (69) ist der 9. Mai auch ein Anlass, der Welt militärische Stärke zu demonstrieren. Mit Militärparaden und Kampfreden. Der Bevölkerung soll das Gefühl gegeben werden, stolze Erben der Sieger und Befreier zu sein.

Dieses Jahr sind die Feierlichkeiten noch aufgeladener als sonst. Um 9 Uhr Schweizer Zeit startet in Moskau die grosse Militärparade, später wird eine Rede Putins zum «Tag des Sieges» auf dem Roten Platz erwartet – auf dem Blutroten Platz, seit der Kreml-Chef einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt.

Darum ist der 9. Mai in Russland ein Feiertag

Während der Rest der Welt jeweils am 8. Mai des Endes des Zweiten Weltkrieges gedenkt und den Sieg über Nazi-Deutschland feiert, tun das die Russen erst am 9. Mai. Die Russen nennen ihn den «Tag des Sieges».

Die Deutschen kapitulierten damals aber bereits zwei Tage zuvor: Generaloberst Alfred Jodl, Chef des Führungsstabs der Wehrmacht, unterzeichnete am 7. Mai in Reims (F), dem Hauptquartier der Alliierten, die bedingungslose Kapitulation.

Als diese in Kraft trat, war es spätabends am 8. Mai. Genauer: 23.01 Uhr mitteleuropäische Zeit. In Moskau war es da wegen der Zeitverschiebung schon nach Mitternacht – also der 9. Mai.

Ein Foto des Fotografen Jewgeni Chaldei, das Anfang Mai 1945 drei Soldaten beim Hissen der Sowjet-Flagge auf dem Reichstagsgebäude zeigt, wurde zum ikonischen Bild des Sieges über Nazi-Deutschland. Einer der drei Soldaten war Leontjewitsch Kowaljow – ein Ukrainer.

Während der Rest der Welt jeweils am 8. Mai des Endes des Zweiten Weltkrieges gedenkt und den Sieg über Nazi-Deutschland feiert, tun das die Russen erst am 9. Mai. Die Russen nennen ihn den «Tag des Sieges».

Die Deutschen kapitulierten damals aber bereits zwei Tage zuvor: Generaloberst Alfred Jodl, Chef des Führungsstabs der Wehrmacht, unterzeichnete am 7. Mai in Reims (F), dem Hauptquartier der Alliierten, die bedingungslose Kapitulation.

Als diese in Kraft trat, war es spätabends am 8. Mai. Genauer: 23.01 Uhr mitteleuropäische Zeit. In Moskau war es da wegen der Zeitverschiebung schon nach Mitternacht – also der 9. Mai.

Ein Foto des Fotografen Jewgeni Chaldei, das Anfang Mai 1945 drei Soldaten beim Hissen der Sowjet-Flagge auf dem Reichstagsgebäude zeigt, wurde zum ikonischen Bild des Sieges über Nazi-Deutschland. Einer der drei Soldaten war Leontjewitsch Kowaljow – ein Ukrainer.

Die Welt schaut bange und gebannt nach Moskau. Wird Putin den 9. Mai dazu nutzen, die Generalmobilmachung zu verkünden und damit eine neue Eskalationsstufe in der Ukraine zünden? Wird er gar einen Weltkrieg herbeireden und erneut mit Atomwaffen drohen?

«Befreiung» der Ukraine von den Nazis

In jedem Fall wird Putin am «Tag des Sieges» den Russen seine eigene Sicht auf die «militärische Spezialoperation» in der Ukraine darlegen und begründen, warum russische Soldaten dort derzeit ihr Leben riskieren. Eine zentrale Behauptung war bislang die «Entnazifizierung» der Ukraine.

Einen Nazi-Vergleich hatte der russische Aussenminister Sergei Lawrow (72) gerade erst gezogen und damit in Israel für Aufregung gesorgt. «Wie kann es eine Nazifizierung geben, wenn er (Wolodimir Selenski) Jude ist? Ich kann mich irren. Aber Adolf Hitler hatte auch jüdisches Blut. Das heisst überhaupt nichts. Das weise jüdische Volk sagt, dass die eifrigsten Antisemiten in der Regel Juden sind.»

Putin soll sich später bei Israels Premier Naftali Bennett (50) für Lawrows Worte in einem Telefonat entschuldigt haben.

Anteil der Befürworter sinkt

Trotzdem: Unabhängige Information gibts in Russland fast nicht mehr, die Propaganda ist allumfassend – und scheint in der russischen Bevölkerung zu verfangen. Das Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum hat Ende April die Menschen gefragt, ob sie die «Aktivitäten» der russischen Armee in der Ukraine befürworten. Im Vergleich zu Umfragen im März sank zwar die Zahl jener, die «Ja» oder «eher Ja» gesagt haben, von 81 auf 74 Prozent – aber drei Viertel sind es immer noch.

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Auf die Frage, wer denn schuld daran sei, dass Menschen sterben, gab mehr als die Hälfte zur Antwort: die USA und die Nato. 17 Prozent schieben der Ukraine die Schuld zu und nur 7 Prozent sehen Russland als Hauptverantwortlichen.

«Die Menschen glauben, dass sie direkt mit dem Staat kommunizieren»

Solche Meinungsumfragen seien mit Vorsicht zu geniessen, warnt der Soziologe Grigori Judin (39) im Interview mit der Journalistin Jekaterina Gordejewa. «Die Menschen glauben, dass sie dabei direkt mit dem Staat sprechen.» Sie seien sehr vorsichtig in ihren Äusserungen, und deshalb dürfe man die Zahlen «keinesfalls ernst nehmen».

Das gilt besonders angesichts der verschärften Gesetzgebung. Bis zu 15 Jahre Haft drohen denjenigen, die «Falschinformationen» über die Armee verbreiten. Die Folge: Man schweigt, kommt ins Gefängnis oder riskiert, dass Vandalen die Haustür mit einem «Hier wohnen die Unterstützer der Nazis in der Ukraine» beschmieren.

Grigori Judin weist zudem darauf hin, dass viele einfach ihr «privates, ruhiges Leben» führen und nichts mit Politik zu tun haben wollten. Sie seien überzeugt, nichts beeinflussen zu können. «In einem autoritären Regime unternimmt die Regierung alles dafür, um die Menschen aus der Politik in ihr Privatleben zu verdrängen», sagt Judin.

«Putin ist sich so sicher, dass er im Recht ist, dass keine Gegenargumente wirken. Wenn nicht mal westliche Politiker, zu denen er gute Kontakte pflegte, ihn zu überzeugen vermögen, warum sollten wir ihn mit einer Demo beeindrucken, geschweige denn beeinflussen können», ist häufig von Menschen zu hören, die unzufrieden sind, sich aber hilflos fühlen.

Verdrängung als Schutzmechanismus

Andere reagieren frustriert auf den Westen. Polina* (30), eine junge Frau aus einer Kleinstadt im südlichen Zentralrussland, sagt von sich, die Invasion nicht zu billigen. «Aber die Massnahmen, die gegen Russland ergriffen werden, führen nur zu Aggressionen bei den Russen», meint sie zu Blick. Denn jedes Jahr gebe es irgendwo auf der Welt einen Krieg, über den sonst auch keiner spreche. «Das ist alles eine grosse Heuchelei. Ich denke, dass viele Länder Russland nicht mögen, einschliesslich der Ukraine, und jetzt hat einfach jeder die Möglichkeit, offen seinen Wunsch zu äussern, dass Russland vom Angesicht der Erde weggefegt werden soll.»

Diese Ansicht ist keine Ausnahme. Der Journalist Schura Burtin (50) führte in den vergangenen Wochen Dutzende Gespräche mit Russen und Russinnen, die er in einem Beitrag für das Exilmedium «Meduza» festhält. «Ich habe oft die Beschwerde gehört, dass uns niemand liebt. Es ist eine Mischung aus Minderwertigkeitskomplexen und Opferrolle.» Der Wunsch nach Russlands Sieg hänge seiner Meinung nach direkt mit den Gefühlen der Kränkung und Demütigung zusammen.

Russische Invasion sorgt für Tausende Tote

Bereits seit zweieinhalb Monaten wütet der Krieg in der Ukraine. Seit dem Angriff der Russen wurde den Menschen im Land unsägliches Leid angetan. Die Bilanz seit dem 24. Februar, dem Tag, an dem Russland die Invasion startete, ist verheerend.

Gemäss einem Bericht der Vereinten Nationen vom 6. Mai sind in der Ukraine über 3300 Zivilisten gestorben. Dazu kommen fast 3500 zivile Verletzte. Das Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte geht aber von viel höheren tatsächlichen Zahlen aus. Gemäss ukrainischen Behörden sollen bis Ende April mindestens 23'870 Zivilisten getötet worden sein.

Auch auf russischer Seite ist die Bilanz verheerend. Schätzungen von bis zu 26'000 toten russischen Militärkräften machen die Runde. Die Ukraine gibt derweil an, dass 22'800 russische Soldaten ihr Leben verloren hätten.

Hoch ist auch die Zahl jener Menschen, die das Land verlassen haben: Gemäss dem Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge sind seit dem 24. Februar über 5,8 Millionen Leute aus der Ukraine geflüchtet.

Bereits seit zweieinhalb Monaten wütet der Krieg in der Ukraine. Seit dem Angriff der Russen wurde den Menschen im Land unsägliches Leid angetan. Die Bilanz seit dem 24. Februar, dem Tag, an dem Russland die Invasion startete, ist verheerend.

Gemäss einem Bericht der Vereinten Nationen vom 6. Mai sind in der Ukraine über 3300 Zivilisten gestorben. Dazu kommen fast 3500 zivile Verletzte. Das Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte geht aber von viel höheren tatsächlichen Zahlen aus. Gemäss ukrainischen Behörden sollen bis Ende April mindestens 23'870 Zivilisten getötet worden sein.

Auch auf russischer Seite ist die Bilanz verheerend. Schätzungen von bis zu 26'000 toten russischen Militärkräften machen die Runde. Die Ukraine gibt derweil an, dass 22'800 russische Soldaten ihr Leben verloren hätten.

Hoch ist auch die Zahl jener Menschen, die das Land verlassen haben: Gemäss dem Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge sind seit dem 24. Februar über 5,8 Millionen Leute aus der Ukraine geflüchtet.

Es sei ausserdem schwierig für die Menschen, mit Zweifeln anzufangen. Das Bild des russischen Befreiersoldaten sei seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein fester Bestandteil des kollektiven Bewusstseins. Sich einzugestehen, dass ein solcher nun Kriegsverbrechen begeht, würde das Weltbild zerstören und den Boden unter den Füssen wegziehen. Verdrängung sei für sie deshalb ein psychologischer Schutzmechanismus.

«Es ist ein Zweifronten-Krieg»

Auf der anderen Seite leiden viele Russen unter Putins Handlungen. «Es ist eine Beleidigung für mich, dass die Soldaten im Namen meines Volkes und meines Landes Menschen eines anderen Landes töten», schreibt etwa eine Frau auf Twitter unter einen Bericht über die Kämpfe.

Manche sprechen von einem Zweifronten-Krieg und sehen sich ebenfalls als Opfer von Putin. «Es ist nicht nur eine schreckliche Tragödie für die Ukrainer, es ist auch ein grosses Unglück für die Russen. Es ist unser gemeinsames Leid», ist zu lesen. Denn «jeder Schuss, der in der Ukraine fällt», töte auch die russische Kultur und die Zukunft der friedlichen Bevölkerung in Russland.

Wer sich gegen Putin stellen will, dem drohen drakonische Strafen und soziale Ächtung. «Die einen werden mit Patrioten-Titeln verführt und andere als Verräter gebrandmarkt», sagte der russische Autor und Journalist Dmitri Gluchowski (42).

Tote Burjaten werden als Helden gefeiert

Viele Soldaten, die in der Ukraine kämpfen und sterben, stammen aus der Region Burjatien im südöstlichen Sibirien. Dort finden Männer oft keine oder schlecht bezahlte Arbeit und werden Berufssoldaten. Die Mutter des verstorbenen Amgalan T.* erzählt gegenüber dem Portal Ljudi Bajkala, dass ihr Sohn nach der Schule für 7000 Rubel (100 Franken) als Turnlehrer gearbeitet habe. «Er hielt ein Jahr durch und wechselte dann ins Militär. Dort zahlte man ihm 50'000 Rubel (700 Franken).» Soldaten in der Ukraine sollen gar 250'000 Rubel (3500 Franken) monatlich verdienen.

Hat der Krieg die Menschen in der Region verändert, die so viele tote Soldaten zu beklagen hat? Kaum. Die Toten werden als Helden gefeiert und mit dem Tapferkeitsorden geehrt, ihre Familien grosszügig vom Staat entschädigt. Die Eltern sollen nicht glauben, dass ihre Kinder umsonst gestorben seien. Igor Schutenkow, Bürgermeister von Ulan-Ude, der Hauptstadt der Republik, sagte über die jungen Männer: «Sie starben bei der Verteidigung der freien Zukunft unseres Landes.»

«Es sind keine Nazis, sondern eine Nation»

Bei weitem nicht alle Soldaten drängt es in den Krieg. Maxim Grebenjuk ist Rechtsanwalt, der derzeit Militärangehörige berät, die ihren Dienst beenden oder gar nicht erst antreten wollen. Aber auch solche, die verletzt sind und nicht ausreichend medizinisch behandelt wurden. «Einige sind immer noch davon überzeugt, dass sie dort den Nazismus bekämpfen. Ich kann nicht sagen, dass jeder, der im Krieg war, glaubt, alles war umsonst. Es gibt Leute, die dorthin zurückkehren wollen. Aber sie sind eine Minderheit», sagt er in einem Interview mit «Meduza».

Die Mehrheit berichte Grebenjuk, dass die Bevölkerung in der Ukraine nicht glücklich darüber sei, sie dort zu sehen. «Die Soldaten begreifen, dass die Dinge nicht so sind, wie man ihnen weismachen wollte. Und dass es sich nicht um ‹Nazis› handelt, sondern um eine Nation, die ihren Staat verteidigt.»

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