Sanktionen wirken anders als beabsichtigt
Immer mehr Russen unterstützen plötzlich Putin

Der Westen versucht, Kreml-Chef Putin mit Sanktionen unter Druck zu setzen, den Krieg in der Ukraine zu beenden. Doch der Plan geht bislang nicht auf. Im Gegenteil: Durch die Sanktionen gibt es plötzlich mehr Putin-Unterstützer als vor dem Krieg.
Publiziert: 12.04.2022 um 10:29 Uhr
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Aktualisiert: 12.04.2022 um 11:31 Uhr
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Seit mehr als einem Monat führt Putin in der Ukraine Krieg.
Foto: keystone-sda.ch

Die harten Wirtschaftssanktionen des Westens gegen Kreml-Chef Wladimir Putin (69) haben bei der russischen Elite einen neuen Trend ausgelöst – bisher pro-westlich eingestellte Russen sammeln sich nun hinter ihrem Präsidenten. «Putin hatte keine andere Wahl, als eine Invasion in die Ukraine anzuordnen, um uns vor den Angelsachsen zu bewahren», sagt etwa Rita German (42). Die Werbeproduzentin war nach eigenen Worten bis vor Kurzem noch «liberal und anti-Putin». Doch die nach der russischen Invasion in der Ukraine verhängten Sanktionen des Westens hätten ihr «die Augen geöffnet», sagt sie.

Der Westen hat Russland wegen der Invasion der Ukraine mit beispiellosen Strafmassnahmen überzogen. Die westlichen Staaten hofften, dass die Sanktionen die Unterstützung für Putin im eigenen Land schwächen würden. Doch jetzt sieht es danach aus, als wenn das Gegenteil der Fall wäre. Nach dem ersten Schock haben viele Mitglieder der bisher pro-westlichen russischen Mittelklasse das Gefühl, dass sie vom Westen unfair behandelt werden – und scharen sich hinter Putin.

Durch die jüngsten Sanktionen wurden die Russen ohne Unterschied getroffen. Verträge mit westlichen Unternehmen fielen ebenso weg wie geplante Urlaubsreisen nach Europa, Kreditkarten oder Medikamente aus dem Westen.

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Russin wollte sogar für die Ukraine Geld spenden

Viele Mitglieder der Mittelklasse verstünden nicht, warum sie kollektiv die Folgen von Putins Vorgehen in der Ukraine tragen müssen, obwohl sie den Präsidenten nie gewählt haben, sagt die Soziologin Natalja Tichonowa von der Russischen Akademie der Wissenschaften: «Die Dämonisierung der Russen als Nation durch Europa treibt sie nur dazu, sich hinter der Flagge zu versammeln.»

Als Putin seine Truppen in die Ukraine schickte, war Rita German gerade dabei, eine Werbekampagne für ein ukrainisches Unternehmen fertigzustellen. Im ersten Schock habe sie überlegt, Geld für die ukrainische Armee zu spenden, sagt sie. Dann habe sie zwei Wochen lang nachgedacht und sich angehört, was «Historiker und Geopolitik-Experten» in Russland zur Ukraine sagten – und wurde zur Putin-Anhängerin.

Normalerweise könne «niemand Krieg akzeptieren», sagt die Werbefachfrau. In der gegenwärtigen Lage gehe es aber um die «Souveränität Russlands»: «Wir stehen unter Belagerung», sagt sie mit Blick auf die Sanktionen. Auf Coca-Cola und iPhones könne sie verzichten – es gebe wichtigere, «grundlegende Werte».

Hartes Vorgehen gegen Proteste

In einer im März veröffentlichten Studie des unabhängigen Instituts Lewada äusserten sich 83 Prozent der Befragten mit Putins Arbeit zufrieden, im Dezember waren es noch 65 Prozent gewesen. Viele Soziologen weisen allerdings darauf hin, dass Umfragen in einer Kriegssituation kein objektives Bild vermitteln, da Kritik an der Regierung quasi verboten ist.

Die letzten oppositionellen Medien wurden in den vergangenen Wochen verboten oder mussten den Betrieb einstellen. Die verbliebenen staatsnahen TV-Kanäle produzieren derweil fleissig Sendungen mit anti-ukrainischer und anti-westlicher Propaganda.

Zu Beginn des Ukraine-Konflikts wurden in Russland mehr als 15'000 Menschen bei Protesten festgenommen, inzwischen gibt es kaum noch Proteste. Zehntausende Russen, die meisten davon mit hoher Bildung, verliessen das Land. Wer geblieben ist, muss sich mit den Folgen der Wirtschaftssanktionen arrangieren – und viele stimmen der vom Kreml verbreiteten Darstellung zu, der Westen führe einen «umfassenden Krieg» gegen Russland.

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Ein Zeichen gegen «Russophobie»

Der Moskauer Alexander Nikonow (37) glaubt, derzeit herrsche im Rest der Welt eine «anti-russische Hysterie». Die Russen müssten daher zusammenstehen: «Dies ist nicht die Zeit für Zankereien.» Selbst seine Kollegen, die noch vor kurzer Zeit offen regierungskritisch gewesen seien, seien nun verstummt.

Auch eigentlich politik-ferne Prominente haben sich in die öffentliche Debatte eingeschaltet. Die Schauspielerin Marina Ermoschkina forderte russische Influencer beispielsweise auf, ihre Chanel-Handtaschen zu zerschneiden, um gegen den Russland-Boykott des Luxus-Modehauses zu protestieren – und veröffentlichte ein Foto, das sie selbst dabei zeigt, wie sie ein Chanel-Täschchen mit einer Gartenschere zerfetzt, um ein Zeichen gegen «Russophobie» zu setzen.

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«Der Wirtschaftskrieg, den der Westen gegen alle Russen unabhängig von ihren politischen Überzeugungen begonnen hat, vereint sie mehr als alle Kreml-Propaganda der vergangenen Jahre», sagt der Politologe Georgi Bowt (62). «Indem er die Nation nicht von ihrem Anführer unterscheidet, befördert der Westen die Entstehung eines neuen Staates vor seinen Grenzen: des Anti-Westens.» (AFP)

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