Das Schweizer Gesundheitswesen ist eine Wohlfühloase. So zumindest scheint es, wenn man die Schilderungen der deutschen Pflegefachfrau Sabine Schröder (50) liest. Sie ist seit 2022 Fachfrau Anästhesie Intensivpflege in Basel. Im Vergleich zur vorherigen Tätigkeit in Deutschland meint sie: «Das Wort Stress existiert in der Schweiz nicht.»
Wie bitte? Geht das Schweizer Gesundheitswesen nicht auf dem Zahnfleisch? Wird in der Schweiz auf hohem Niveau gejammert?
«Die Einschätzung der deutschen Kollegin ist überraschend und darf nicht verallgemeinert werden», warnt Yvonne Ribi (47), Geschäftsführerin des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK–ASI) im Gespräch mit Blick. Es gebe auch in der Schweiz Situationen, wo auf einer chirurgischen Abteilung eine Pflegefachperson mit einer Hilfsperson für 20 Patienten verantwortlich sei. Zudem dürfe von einer fachlich spezialisierten Abteilung, in der Schröder arbeitet und die ein fixes Verhältnis zwischen Patienten und Pflegepersonen vorschreibt, in keiner Weise auf normale Bettenstationen, Alters- und Pflegeheime oder die Spitex geschlossen werden.
«Anderswo schlimmer» bedeutet nicht «gut»
Der Schuh drückt im Schweizer Gesundheitswesen. Umfragen, Studien und Erhebungen zeigen deutlich, dass in der Pflege die Arbeitsbelastung ungemein hoch ist, zu viele den Beruf verlassen oder krankheitshalber ausfallen. «Die Ausbildungszahlen decken den Bedarf in keiner Weise ab», so Ribi.
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Christina Schumacher (44), Pflegefachfrau in einem Berner Spital, will die Schilderungen von Schröder auch nicht unerwidert stehenlassen. «Dass es anderswo schlimmer ist, heisst noch lange nicht, dass es in der Schweiz zum Besten steht.» Obwohl sie ihren Job liebt, berichtet auch sie von Stress, fehlenden Pausen und der Unmöglichkeit, täglich alles zu erledigen, was sie sich vornimmt und was menschlich und fachlich nötig wäre. «Es braucht noch einiges, damit die Situation in der Gesundheitsbranche so schön ist, wie von Frau Schröder dargestellt.»
Deutschland hat es nicht viel schlechter
Ribi stellt aber auch den scheinbar immensen Kontrast zum deutschen Gesundheitswesen infrage. Die Löhne in der Schweiz sind, absolut betrachtet, natürlich viel höher. Aber: «Bemisst man die Löhne in der Pflege am nationalen Durchschnittslohn, ist die Schweiz auf dem drittletzten Platz und Deutschland im Mittelfeld», so die Verbandschefin.
Nicht nur das: «Wenn wir die Anzahl Pflegefachpersonen pro Einwohner anschauen, dann ist Deutschland vor der Schweiz verortet.» Zudem sind die Handlungskompetenzen der Pflegenden in der Schweiz weitergehender als in Deutschland, was mehr Verantwortung mit sich bringt.
Laut Ribi ist es ein Fakt, dass Deutschland in den letzten Jahren «sehr viel in die Pflege investiert» hat. Hinzu kommt, dass die Zuwanderung aus Deutschland deutlich abnimmt. Gerade aus dem Raum Basel werde deutlich, «dass die Attraktivität der Schweiz für Grenzgängerinnen abgenommen hat und einige auch wieder nach Deutschland zurückkehren». Was den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen weiter verstärkt.
Pflege-Initiative kommt in die Gänge
Ribi befürchtet aber nicht, dass Schröders Aussagen die Wahrnehmung der Schweizer Gesundheitsbranche verzerren. «Die Zahlen und Belege sind zu eindeutig.» Vom Erlebnis einer Person auf den Zustand einer Branche zu schliessen, sei nicht zulässig. Überdies erleben viele Menschen täglich den Fachkräftemangel, weil sie auf Pflegeleistungen angewiesen sind, die sie nur schwerlich bekommen.
Immerhin: Die Umsetzung der Pflege-Initiative kommt langsam in die Gänge. Von paradiesischen Zuständen ist das Schweizer Gesundheitswesen aber noch meilenweit entfernt.