Kampf gegen Fachkräftemangel
So suchen Schweizer Unternehmen im Ausland nach Angestellten

Gastro, Gesundheit, Maschinenbau – in vielen Branchen fehlt es an Mitarbeitenden. Zunehmend suchen Firmen auf eigene Faust in der EU. Sie würden aber auch gerne ausserhalb suchen.
Publiziert: 05.10.2023 um 09:07 Uhr
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Aktualisiert: 16.01.2024 um 14:11 Uhr
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Pflegerin im Spital: Besonders im Gesundheitssektor bleiben viele Stellen unbesetzt, weil es an qualifizierten Bewerbern und Bewerberinnen fehlt.
Foto: Keystone
Marc Bürgi
Handelszeitung

Wroclaw – Breslau auf Deutsch – befindet sich im Westen von Polen. Die Grossstadt liegt fernab von der Schweiz. Und doch führt ein Weg von hier direkt in den Schweizer Arbeitsmarkt: Dutzende Polinnen und Polen lernen in Wroclaw Deutsch, um in spätestens einem Jahr eine Schweizer Stelle anzutreten.

Sie sind Teil des Ausbildungsprogramms der Firma Carenea. Das Zürcher Unternehmen vermittelt polnische Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger sowie anderes Gesundheitspersonal an Schweizer Spitäler und Apotheken. Damit ist es Teil eines neuen Phänomens: Zunehmend machen sich Unternehmen auf eigene Faust im Ausland auf die Suche nach Mitarbeitenden, weil sie in der Schweiz zu wenig gute Bewerberinnen und Bewerber finden.

«Wir sind Teil der Lösung für den Fachkräftemangel», sagt Peter Petrin, Präsident von Carenea. Das Unternehmen wurde letztes Jahr gegründet und begann, Kandidatinnen und Kandidaten zu suchen. Neben Breslau betreibt Carenea auch in Warschau und Krakau Rekrutierungszentren. Ungefähr neunzig Personen sind derzeit in der Ausbildung, sie lernen Deutsch und werden mit der Schweiz und ihren Gepflogenheiten vertraut gemacht. Das Fachwissen bringen sie schon mit, es sind alles Berufsleute, meist mit Universitätsabschluss – vom Pflegefachmann bis zur Laborspezialistin.

Nach Abschluss des Kurses winken ihnen Stellen im Kantonsspital Aargau, bei einer Klinik der Hirslanden-Gruppe oder in einer der anderen Institutionen und Unternehmen, die über Carenea in Polen rekrutieren. «Wir haben keine Mühe, unsere Leute zu platzieren; die Nachfrage ist grösser als das Angebot», sagt Peter Petrin.

Artikel aus der «Handelszeitung»

Dieser Artikel wurde erstmals in der «Handelszeitung» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.handelszeitung.ch.

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Es fehlt an Mitarbeitenden

Im Gesundheitswesen fehlt es besonders an Personal. Doch auch andere Schweizer Branchen klagen, dass sie zu wenig Mitarbeitende finden. Die Arbeitslosigkeit ist gering und die Chance, dass sie trotz baldiger wirtschaftlicher Abkühlung nur moderat steigt, gross. Eine ganze Generation, die Babyboomer, zieht sich in den kommenden Jahren aus dem Arbeitsleben zurück und hinterlässt unbesetzte Stühle im Arbeitsmarkt.

In anderen Ländern wie Deutschland, wo diese demografische Lücke ebenfalls klafft, wirbt die Regierung gezielt Arbeitskräfte auf anderen Kontinenten an: in Kenia, Brasilien oder auf den Philippinen. Schweizer Unternehmen suchen auf dem eigenen Kontinent, und Polen ist ein dafür besonders beliebtes Land.

Kooperation mit polnischer Universität

In Polen muss Carenea viel Aufwand betreiben, um geeignete Bewerberinnen und Bewerber zu finden. Von den Fachkräften wird viel verlangt: Sie ziehen in ein fremdes Land und lassen Freunde und Familie zurück. Die Arbeitskultur ist anders, die Sprache ungewohnt. Carenea akzeptiert deshalb nur Personen unter 35 Jahren für das Programm. «In unserer Erfahrung ist es für Ältere schwierig, eine neue Sprache zu lernen und das Umfeld zu wechseln», sagt Petrin. Aus diesem Grund hat Carenea dieses Jahr mit der Universität von Kielce im Süden Polens eine Zusammenarbeit gestartet. Angehende Krankenpflegerinnen und -pfleger erhalten während des Studiums Deutschunterricht, damit Carenea ihnen nach Abschluss eine Schweizer Stelle anbieten kann.

«Treffsicherheit» sei wichtig, sagt Unternehmer Petrin. «Wir investieren mindestens 10’000 Franken in jede Person.» Carenea rekrutiert, schult und vermittelt die Polinnen und Polen. Teil der Schulung ist ein mehrtägiges Probearbeiten in einem Schweizer Spital oder in einer Pflegeeinrichtung, und auch um die Zulassung für den hiesigen Arbeitsmarkt kümmert sich das Unternehmen.

Die Schweiz bietet attraktive Arbeitsbedingungen

Die Zuziehenden sind bei den Arbeitsbedingungen den Schweizer Kolleginnen und Kollegen gleichgestellt – sie verdienen also viel besser als in ihrer Heimat, wo Krankenpflegerinnen und -pfleger mit Bachelor-Abschluss umgerechnet weniger als 2000 Franken im Monat erhalten.

Aber es sind nicht nur die höheren Löhne, welche die Polinnen und Polen in die Schweiz locken. Die Arbeitsbedingungen in Schweizer Spitälern sind, so Petrin, aus polnischer Sicht attraktiv. «Das ist das wichtigere Argument als der bessere Verdienst, den sie in der Schweiz erhalten. Im polnischen Gesundheitssektor ist das Arbeitsklima für die Angestellten belastender und die Infrastruktur vielfach weniger modern.»

Die Entstehungsgeschichte von Carenea ist direkt mit dem Pflegenotstand in der Schweiz verknüpft: «Die Verantwortlichen in den Spitälern suchen händeringend nach Personal – so ist die Idee entstanden, dieses Programm in Polen aufzubauen», erzählt Petrin.

Mittlerweile sucht auch der grösste Schweizer Apothekenbetreiber Galenica über Carenea nach qualifizierten Angestellten für seine Tochtergesellschaften wie Amavita oder Sun Store. «Es ist ein Pilotprojekt, und wenn wir auf diese Weise drei bis vier Mitarbeitende gewinnen könnten, wäre das bereits ein Erfolg», sagt Virginie Pache, Leiterin Pharmacies Galenica.

Bindella wirbt Köche in Norditalien an

Der Trend, Personal direkt im Ausland anzuwerben, reicht weit über die Gesundheitsbranche hinaus. In der Gastronomie – einer weiteren Branche, in der Fachkräfte fehlen – wirbt beispielsweise die Zürcher Gastro-Kette Bindella seit diesem April in Italien Angestellte an.

«Wir suchen in erster Linie in den Regionen Toskana, Piemont und der Lombardei», sagt Bindella-Chef Rudi Bindella Junior. Sieben Mitarbeitende seien bisher so bereits zum Unternehmen gestossen, hauptsächlich Köche und Pizzaioli. «Für uns ist diese Strategie aktuell passend. Aber um den Fachkräftemangel zu beheben, braucht es sicher mehr. Vor allem muss es gelingen, die Attraktivität der Gastronomiebranche wieder zu steigern», sagt Bindella.

«Wir haben Verständnis für die Unternehmen»

Seit Einführung der Personenfreizügigkeit mit der EU 2001 kommen jährlich netto über 66’000 Ausländerinnen und Ausländer zum Arbeiten in die Schweiz. Doch offensichtlich reicht dieser Zustrom nicht aus, um den Fachkräftemangel zu beheben. Und dies, obwohl die Schweizer Konjunktur an Fahrt verliert und insbesondere Industriebetriebe zurzeit weniger Aufträge erhalten.

Doch gemäss einer aktuellen Umfrage der Konjunkturforschungsstelle (KOF) der ETH Zürich klagen Schweizer Unternehmen weiterhin über ihre Schwierigkeiten, ausreichend gut ausgebildete Mitarbeitende zu finden – obwohl nicht mehr ganz so «akut», bleibe der Fachkräftemangel ein «dringendes Problem».

«Der Fachkräftemangel hat sich nicht entspannt, er bleibt eine der grössten betrieblichen Herausforderungen für die Firmen aus der Tech-Industrie», sagt Ivo Zimmermann, Sprecher von Swissmem, dem Verband der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie sowie von Tech-Betrieben. Der Arbeitsmarkt «ist so ausgetrocknet wie selten zuvor», sagt auch Simon Wey, Chefökonom des Arbeitgeberverbands. «Die Betriebe müssen zuerst einmal den Stau an offenen Stellen abbauen.» Seine Organisation sieht die Lösung für den Fachkräftemangel auch im Inland. «Wir wollen insbesondere mehr Mütter und ältere Menschen zurück in den Arbeitsmarkt bringen», sagt Wey.

Doch es sei «illusorisch», zu glauben, dass dies ausreiche. «Der hohe Bedarf erfordert auch künftig, dass Fachkräfte aus dem Ausland rekrutiert werden können», so der Ökonom. Gerade das Gesundheitswesen sei schon heute in grossem Stil von ausländischen Arbeitskräften abhängig, und die Situation werde sich künftig mit der Alterung der Bevölkerung von westlichen Ländern nochmals verschärfen. «Spätestens dann werden die Institutionen ohne Zuwanderung kollabieren. Wir haben Verständnis für die Unternehmen, die aktiv im Ausland Personal anwerben», so Wey.

Die Suche bleibt auf Europa beschränkt

Die bilateralen Verträge mit der Europäischen Union ermöglichen es der Schweiz, den Fachkräftemangel teilweise zu lindern – das hält auch das Staatssekretariat für Wirtschaft Anfang Sommer in seiner neuesten Analyse zu den Auswirkungen des Abkommens fest. Aber die Regelung setzt der Personalsuche auch Schranken, weil sie es den Unternehmen sehr schwer macht, Mitarbeitende von ausserhalb der EU anzustellen.

Und dies wird zunehmend zu einem Problem, weil auch die Bevölkerung in der EU altert und der Anteil der Menschen im Erwerbsalter kleiner wird.

«Sonst wären wir auf die Philippinen gegangen»

Simon Wey vom Arbeitgeberverband hört in Unternehmerkreisen Kritik an den Hürden für Menschen von ausserhalb der Europäischen Union, eine Arbeitsbewilligung zu erhalten. «Das letzte Wort zur Drittstaatenregelung ist noch nicht gesprochen. Es finden zunehmend Diskussionen darüber statt, ob die restriktiven Zulassungskriterien für den Zuzug von Fachkräften von ausserhalb der EU gelockert werden sollten.»

Dies bestätigt auch Ivo Zimmermann von Swissmem: «Die Tech-Industrie wünscht sich seit Jahren, dass die Kontingente für Arbeitskräfte aus Drittstaaten vergrössert und die entsprechenden administrativen Hürden abgebaut werden. Wenn die Unternehmen einfacher Angestellte aus Drittstaaten anstellen könnten, würde das den Fachkräftemangel entschärfen helfen.»

Auch Carenea hätte das Programm lieber in Asien umgesetzt. «Wegen der Drittstaatenlösung können wir nur Leute im EU-Raum rekrutieren. Sonst wären wir auf die Philippinen gegangen. Der kulturelle Fit würde passen», sagt Peter Petrin. In Polen, Land zweiter Wahl, sind dem Geschäft des Personalvermittlers enge Grenzen gesetzt.

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