Es ist ein festes Ritual. Im Herbst tritt der Gesundheitsminister vor die Medien und sagt, wie viel wir im kommenden Jahr für die Krankenkasse bezahlen müssen. Es ist immer mehr. Im Jahr 1996 betrug die mittlere Jahresprämie 1539 Franken. Ende September hat Alain Berset die Jahresprämie für 2024 bekanntgegeben: Es sind 4314 Franken. Wenn der erste Ärger darüber verraucht ist, fragt man sich: Wie kommt das? Und warum bekommt die Politik das Problem nicht in den Griff? Die lapidare Antwort: Das Gesundheitswesen ist ein komplexes Gebilde. Und seine Finanzierung ist etwa so transparent wie die Milchglasscheiben eines Ambulanzfahrzeugs. Nur deshalb können alle Beteiligten die eigene Verantwortung herunterspielen und mit dem Finger auf die anderen zeigen.
Wundermittel «einheitliche Finanzierung»?
Eine breite Allianz von Ärztinnen und Ärzten, Pharmaindustrie, grossen Krankenkassen und dem Wirtschaftsverband Economiesuisse verlangt jetzt eine neue Finanzierung der Gesundheitskosten.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
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Efas heisst sie. Ein sperriger Begriff, den sich kaum jemand merken kann. Typisch fürs Gesundheitswesen. Doch die «einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen», dafür steht Efas, soll «die wichtigste Reform zur Kostendämpfung» sein, wirbt zum Beispiel der Ärzteverband FMH.
Um einschätzen zu können, ob das stimmt, verfolgen wir den Weg der fiktiven Patientin Anna Muster. Muster spürt beim Treppensteigen einen Schmerz in der Brust. Ihr Hausarzt Heilgut schickt sie ins renommierte Spital Wohlgesund. Dort führen die Ärztinnen und Ärzte eine Untersuchung durch. Anna Muster bleibt zwei Tage, das kostet 10’000 Franken. Wer bezahlt?
Das Spital teilt den Gesamtbetrag auf. Dem Wohnkanton von Muster schickt es eine Rechnung von 5500 Franken, Musters Krankenversicherung muss 4500 Franken zahlen. Diese Aufteilung gilt seit dem Jahr 2012, da trat das Gesetz über die Spitalfinanzierung in Kraft. Es schreibt vor, dass im stationären Bereich die Kantone 55 Prozent der Gesamtkosten übernehmen und die Krankenversicherungen 45 Prozent. So oder so: Es sind letztlich die Bürgerinnen und Bürger, die zahlen: beim Anteil der Krankenversicherungen mit ihren Prämien, beim Anteil der Kantone mit ihren Steuern.
Jetzt kommt Efas ins Spiel. Das Kernanliegen der Vorlage ist einfach: Neu sollen sich die Kantone auch bei ambulanten Behandlungen mit 55 Prozent an den Gesamtkosten beteiligen. Um das zu verstehen, schauen wir uns noch mal die Patientin Anna Muster an.
«Ambulant vor stationär»: Eine gute Sache?
Statt ins Spital schickt Hausarzt Heilgut Anna Muster zu einem Arzt mit eigener Praxis. Er führt die Herzuntersuchung ambulant durch. Muster kommt morgens in die Praxis und geht abends wieder nach Hause. Die Rechnung fällt mit 2000 Franken viel günstiger aus. Die hohen Kosten im Spital, die wegen des 24-Stunden-Betriebs und der Hotellerie entstehen, entfallen.
Um diese Kostenvorteile zu nutzen, möchte der Bund, dass immer mehr Behandlungen ambulant durchgeführt werden. Dazu gehören etwa Kniespiegelungen, bestimmte Krampfader- und Leistenoperationen. Das Prinzip heisst «Ambulant vor stationär» und wurde 2019 in der Krankenpflege-Leistungsverordnung geregelt. Was Geld sparen sollte, treibt nun aber gemäss FMH die Prämien hoch. Denn nach heutigem Finanzierungsmodell muss die Krankenversicherung von Anna Muster die ambulante Behandlung zu 100 Prozent bezahlen. Der Kanton beteiligt sich nicht an den Kosten.
«Wenn wir immer mehr ambulant behandeln, muss der Prämienzahler immer mehr Behandlungen allein finanzieren. Je nach Behandlung kann das für den Prämienzahler sogar teurer kommen», sagt FMH-Präsidentin Yvonne Gilli und veranschaulicht das mit einem eigenen Rechenbeispiel. Eine Herzschrittmacher-Operation koste bei stationärer Durchführung 23’770 Franken, wovon 10’700 aus Prämien gezahlt würden. Eine ambulante Durchführung sei mit 20’460 Franken über 3000 Franken günstiger. Weil sie aber vollständig von der Krankenversicherung bezahlt werde, koste sie die Prämienzahler fast 10’000 Franken mehr. «Sparen tut so nur der Kanton», sagt Gilli. Dieser Missstand liesse sich durch Efas beheben. Hat sie recht?
Ist Efas eine Nebelkerze?
«Jein», wäre wohl die richtige Antwort. Der «Missstand» der uneinheitlichen Finanzierung liesse sich durch Efas beheben – aber ist es überhaupt ein Missstand? Oder zündet hier die FMH bloss eine Nebelkerze, um von den tatsächlichen Problemen abzulenken? Tatsache ist, dass Efas bloss den Finanzierungsmodus ändern würde. Statt die ambulanten Leistungen allein aus dem Prämientopf zu finanzieren, nähme man einfach ein bisschen mehr aus dem Steuertopf. Auf das tatsächliche Problem der steigenden Gesamtkosten hat Efas keine bremsende Wirkung.
Mehr zu den steigenden Gesundheitskosten
Kritiker befürchten sogar einen gegenteiligen Effekt. Die jährliche Bekanntgabe der Prämienhöhe sorgt nämlich dafür, dass die Kostenproblematik im Gesundheitswesen durch die breite Berichterstattung viel Aufmerksamkeit erhält. Das wäre mit einer stärkeren Steuerfinanzierung kaum in diesem Masse der Fall. Efas würde aber für eine sozialere Finanzierung sorgen, weil Steuern im Gegensatz zu den Prämien einkommensabhängig erhoben werden.
Ein willkürlich gewähltes Beispiel
Tatsächlich zeigen Untersuchungen der Unternehmensberatung PWC, des Krankenkassenverbands Curafutura und des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan), dass das FMH-Rechenbeispiel sehr willkürlich gewählt ist. Denn ausgerechnet beim Einsetzen eines Herzschrittmachers ist der Kostenunterschied zwischen einer stationären und einer ambulanten Behandlung vergleichsweise gering. Bei zahlreichen anderen Eingriffen – etwa einer Mandeloperation – ist der Unterschied aber derart gross, dass die Krankenkassen besser fahren, wenn sie ambulant vorgenommen werden. Selbst wenn die Kassen in diesem Fall die vollen Kosten übernehmen müssen.
Die erwähnten Untersuchungen kommen zum Schluss, dass «Ambulant vor stationär» alles in allem nicht zu höheren Kosten für die Krankenversicherungen führt und damit auch nicht zu höheren Prämien. So heisst es im aktuellen Obsan-Bericht, die Gesamtkosten für die von der Verschiebung von «stationär» zu «ambulant» betroffenen Eingriffe seien seit 2019 um 59 Millionen Franken gesunken. Von den Einsparungen hätten die Kantone mit 48 Millionen, die Krankenversicherungen mit 11 Millionen Franken profitiert. Fazit: Vom Grundsatz «Ambulant vor stationär» profitieren alle.
In Deutschland halb so teuer
Das eigentliche Grundproblem des schweizerischen Gesundheitswesens ist: Es produziert sehr teuer. Das weiss Gesundheitsökonom Oliver Peters. Er war Vizedirektor beim Bundesamt für Gesundheit und Direktor des Universitätsspitals Lausanne. Und er liebt eine klare Sprache: «Hier herrschen in der Schweiz skandalöse Zustände. Es gibt im Vergleich zu Nachbarländern Preisaufschläge von bis zu 200 Prozent, die rational nicht zu erklären sind.»
Ein aktueller Report des Beratungsunternehmens International Federation of Health Plans stützt Peters’ Aussage: 7000 Franken kostet das Einsetzen eines künstlichen Hüftgelenks in Deutschland, 15’000 Franken in der Schweiz. Oder eine Stentoperation zur Erweiterung der Herzblutgefässe: 3500 Franken in Deutschland, 8700 Franken in der Schweiz.
«In der Schweiz sind die Verdienstmöglichkeiten zu gross»
Das legt nahe, das Augenmerk nicht auf die Finanzierung zu legen – wie es die FMH gern möchte –, sondern auf die Kosten. Gesundheitsexperte Peters sagt es ganz unverblümt: «Im Vergleich mit dem Ausland sind in der Schweiz die Verdienstmöglichkeiten zu gross.» Anbieter von lukrativen Eingriffen, etwa Hüftprothesen, würden nicht kontrolliert. Darum gebe es kaum Wettbewerb in der allgemeinen inneren Medizin, hingegen besonders viel Wettbewerb zum Beispiel in der Radiologie, Strahlentherapie, Orthopädie, Kardiologie, Urologie. «Ohne staatliche Kontrolle des Angebots oder Deckelung der abgerechneten Leistungen werden Kliniken und niedergelassene Ärztinnen und Ärzte ihr Angebot an rentablen Leistungen ungebremst ausweiten.»
Gemeint sind nicht angestellte Spitalärzte, sondern Spezialisten mit eigener Praxis, die ambulant behandeln. Hier kommt mit dem Tarmed ein anderes Abrechnungssystem zum Zug. Die Ärzte erhalten nicht wie im Spital eine Pauschale für einen bestimmten Eingriff, sondern erhalten jede Einzelleistung vergütet, die sie in Rechnung stellen. Eine Kostengrenze nach oben gibt es bislang nicht. Eine Reform, die auch im ambulanten Sektor feste Pauschalen vorsieht, ist im Parlament hängig.