Die Kostendämpfung im Gesundheitswesen sei «eine Sackgasse». Es sei kein Problem, wenn alles teurer werde, solange die Qualität stimmt. Dies ist die Lieblingsaussage eines bekannten Berner Lobbyisten im Gesundheitsbereich in Bundesbern. Er heisst Walter Stüdeli, ist Politologe und Ökonom und derzeit ein gefragter Mann, weil er es schafft, Bundesbern zum Rotieren zu bringen.
Sein jüngster Coup: Er organisiert den Sturm der Physiotherapeuten und Physiotherapeutinnen auf Bundesbern. Der Verband Physioswiss, der den Berufsstand organisiert, will Gesundheitsminister Alain Berset bis im November 100’000 Protestunterschriften überreichen. Ziel: dass das Bundesamt für Gesundheit eine Reform der Tarife in der Physiotherapie absagt.
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Der «kleine» Fall Physiotherapie zeigt exemplarisch, warum in der obligatorischen Krankenversicherung alle Reformen zum Scheitern verurteilt sind. Und zwar seit Jahren. Mit der Folge, dass die Krankenversicherungen immer mehr Kosten zu tragen haben und diese an die Versicherten weiter verrechnen. Die Krankenkassenprämien steigen und steigen, zuletzt für das Jahr 2024 im Schnitt um 8,7 Prozent für Erwachsene. In absoluten Zahlen steige die Prämie um 23.80 Franken auf 427 Franken, wie Alain Berset am Dienstag bekannt gab – ein Rekordwert der letzten zwei Jahrzehnte.
Das Ringen um neue Abrechnungsmodelle
Was will das Bundesamt im Physio-Fall? Es will die Abrechnung modernisieren. Bisher galt eine Sitzungspauschale. Nirgendwo stand, wie lange sie dauert. Meistens wird man in der Physiotherapie für eine halbe Stunde aufgeboten. Doch einige Anbieter kamen darauf, die Behandlung auf 15 oder 20 Minuten zu verkürzen – bei gleichbleibender Wirkung. Auch die Physiotherapie arbeite heute effizienter als früher, so die Erklärung eines Protagnosten.
So war es naheliegend, dass das Bundesamt einen neue Tarifstruktur vorschlägt: als Basis eine Sitzung von 20 Minuten und jede weitere 5 Minuten als Zusatz, wie in Arztpraxen. Bersets Bundesamt greift ein, weil die Kosten der Physiotherapie explodiert sind und weil die Sache Transparenz verlangt. Die Kosten explodierten in der ambulanten Physiotherapie innert zehn Jahren um 6,9 Prozent, während alle anderen Leistungen der Krankenversicherung bloss um 2,8 Prozent anstiegen. Im Jahr 2022 haben sie sich noch beschleunigt, mit einem Plus von 8,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, sagte Berset am Dienstag. Nun sei Transparenz gefragt, weil der Bund gesetzlich den Nachweis von jeder Therapiesitzung verlangen müsse, damit Versichertengelder wirksam ausgegeben werden.
Bei dieser Begründung wittert die Branche, dass es Berset um eine Senkung der Behandlungskosten geht, auch wenn das nirgends steht. Sie gibt sich skandalisiert, weil man bereits heute in der Physiotherapie relativ wenig verdiene, jedenfalls weniger als in Arztberufen. Die Rede ist von 60 Franken pro Stunde brutto – «weniger als Handwerker», so ein Aufregerargument der Branche. So war es für den Lobbyisten Stüdeli ein Leichtes, zu organisieren, dass sich jetzt Zehntausende auf Berset einschiessen, einschliesslich zwei Dutzend Nationalräten von der Linken bis zur SVP: Der Bundesrat treibe eine Branche in den Abgrund und gefährde die Verfügbarkeit dieser Therapieform.
Jeder Leistungserbringer wehrt sich gegen Reformen
Stüdeli und die Physiotherapeuten haben ein grosses Vorbild: die Ärzteschaft. Sie schafft es seit Jahren, jede Reform der Abrechnung der ärztlichen Leistungen, die sogenannte Tarmed, zu torpedieren. Die Argumente sind ähnlich wie bei der Physiotherapie: Der Bundesrat gefährde die Versorgungssicherheit von Behandlungen.
Dabei gibt es inzwischen etliche Beispiele, wie die geltenden Abrechnungstarife (genannt Tarmed) zu Fehlanreizen und zur Überversorgung mit medizinischen Leistungen führen. Die Folge: stark steigende Krankenkassenkosten. Drei Beispiele, über die die NZZ am Dienstag berichtete: das Scannen des Knies ohne Unfall, gewisse Knieoperationen oder Cholesterinsenker bei älteren Leuten ohne Vorgeschichte.
Auch die Pharma schafft es mit aller Regelmässigkeit, sich gegen die Reform der Medikamentenpreise zu stemmen. Das jüngste Beispiel: Berset wollte dem hohen Schweiz-Zuschlag für Generika an den Kragen. Generika sind wirkungsgleiche Kopien eines Originalmedikaments ohne Patentschutz. Berset hatte ein sogenanntes Referenzpreissystem vorgeschlagen, das die tiefen Medikamentenpreise des nahen Auslands stärker berücksichtigt. Doch die Pharma stellte sich auf die Hinterbeine, kontaktierte Medien und Parlamentsabgeordnete und schaffte es, im Publikum ihre Botschaft zu verankern, dass mit der Preisreform die Versorgungssicherheit und die Gesundheit gefährdet sei. Als Folge musste Berset das neue Preissystem zurückziehen.
Expertenbericht fast ohne Wirkung
Die Physiotherapie, die Ärzteschaft, die Pharma, die Apotheken, die Medi-Importeure und Vertriebsfirmen: Die Liste der Profiteure der obligatorischen Krankenversicherung, die sich gegen Reformen wehren, ist lang. Die beste Metapher ist die Allmendwiese, an der sich alle gütlich tun, aber niemand zum Gras sorgt. Der Bund und die Krankenversicherungen versuchen, den Zugang zu begrenzen. Doch die Grasenden schaffen es Mithilfe von Lobbyisten im Parlament regelmässig, alle geplanten Hürden zu demontieren.
Zwei Paradebeispiele sind die sogenannten Kostendämpfungspakete von 2019 und 2020. Sie begannen 2017 mit einem renommierten Expertenbericht zur Reform der Krankenversicherung, der all die Kostentreiber und Fehlanreize aufzählte. Daraus entstanden 38 Empfehlungen, die Berset in zwei Vorlagen ins Parlament brachte. Das Ziel wären Einsparungen von bis zu einem Fünftel bei gleicher Qualität. Die Krankenkassenprämien hätten massiv sinken sollen.
Doch es kam anders: Die Beratung dauerte je zwei Jahre. Potenziell einschneidende Sparmassnahmen wie die Preisreduktion für Generika, die Stärkung des Parallelimports von günstigen Medikamenten, die Pflicht zur Erstberatung (sogenannte Gatekeeper), etwa bei Hausarztpraxen oder mittels Telemedizin, sowie neue Vollmachten des Bundesrates, um Behandlungstarife zu senken, wurden von der bürgerlichen Mehrheit allesamt gestrichen. Auch Massnahmen wie Bussen und Sanktionen bei Nichteinhaltung von Budgetvorgaben des Bundes in der Krankenversicherung flogen raus. Die Leistungserbringer, darunter die Pharma, freut das Resultat enorm. Das Parlament hat eine Maus geboren.
Berset und sein Bundesamt für Gesundheit sind schwach
Berset und das Bundesamt für Gesundheit haben ihren Anteil am Misslingen. Lobbyist Walter Stüdeli sagt, dass ihm «der Wille zur Gestaltung» gefehlt habe. Der Direktor einer grossen Krankenkasse, der nicht namentlich zitiert sein will, sagt, dass es nicht zielführend sei, wenn Berset die Branche zusammentrommle und dann sinnvolle Einigungen versenke. Das jüngste Beispiel erfolgte letzten Freitag: Berset verkündete neue, kleine Sparmassnahmen in Eigenregie. Drei waren gut. Doch die eine liess er bleiben, auf die sich die Branche geeinigt hatte. Die Idee, dass günstige, verschriebene Medikamente, etwa Paracetamol oder Ibuprofen, aufschlägen und dafür teure günstiger würden.
Per Saldo sollten damit 60 Millionen Franken an Ausgaben im Obligatorium gespart werden. Doch Berset schlug die Offerte am Ende aus. Es hiess, er habe einen Reputationsschaden befürchtet, denn wenn günstige Medikamente plötzlich sichtbar stark aufschlagen, hätte dies für breite Entrüstung gesorgt.
Das fehlende Preisschild
Selbst kleine Reformen sind also verbaut. Das ganze Rösslispiel dreht sich weiter wie bisher. Mehr Diagnosen, mehr Therapien, mehr Kosten und höhere Krankenkassenprämien. «Der Leistungskatalog wird laufend grösser. Das macht die Sache laufend teurer», sagt der erwähnte Krankenkassendirektor. Er plädiert dafür, diesen «stark auszumisten». Berset hat sich stets – und bis heute – dagegen gewehrt, mit der Begründung der Gleichbehandlung von Arm und Reich.
Die Folge: Die Ausgaben im Gesundheitswesen sind pro Kopf happig gestiegen. Sie betragen heute rund 850 Franken pro Monat. Vor zehn Jahren lagen sie bei 700 Franken, vor zwanzig Jahren bei 557 Franken. Seit 2003 haben sich die Kosten pro Kopf um 52 Prozent erhöht.
Die obligatorisch Krankenversicherten tragen davon knapp die Hälfte. Die Differenz berappen überwiegend die Kantone (Spitäler) mit Steuereinnahmen und zu einem kleineren Teil die Zusatzversicherten und Private. Diese Kosten verschieben sich derzeit von den Eingriffen mit Übernachtung im Spital («stationär») zu den Krankenkassen («ambulant»).
«Dieser Anstieg fördert provokante und irgendwann einmal radikale Ideen», sagt der erwähnte Krankenkassendirektor. Als radikal bezeichnet er etwa die Forderung der Linken: die Einführung einer nach Einkommen abgestuften Krankenkassenprämie. «Ein sozialistisches Projekt», nennt es der gebürtige Ostschweizer. Dieses Prinzip dürfte den Mittelstand und die oberen Einkommensschichten noch stärker belasten als heute.
Die schwache Rolle der Krankenkassen
Eine provokante Idee ist die von der Zürcher Gesundheitsdirektorin Nathalie Rickli (SVP) kürzlich ins Spiel gebrachte Abschaffung des Vertragszwangs der Krankenkassen mit jeder Arztpraxis. Dies würde den Krankenkassen die Verhandlungsmacht zurückgeben, die sie heute nicht haben.
Diese Kraft zeigt sich in der Zusatzversicherung. Dort können Versicherungen Privatspitäler und Arztpraxen aus dem Katalog werfen, wenn ihre Tarife unanständig hoch sind. Dies hat einzelne Anbieter zu fairen Preisen bewogen und den Missbrauch ausgemerzt, etwa die doppelte Verrechnung ärztlicher Leistungen in Privatspitälern. Die «Handelszeitung» kennt Beispiele, die sie nicht namentlich nennen darf.
Eigentlich sollten Krankenkassen die Interessen der Prämienzahlenden vertreten. Ob sie dies tun, ist umstritten. Das Gesetz gibt ihnen theoretisch eine grosse Verhandlungsmacht. Sie könnte tiefere Tarife aushandeln. Doch sie haben sich selbst geschwächt, weil sie auf nationaler Ebene in zwei Lager gespalten sind – in zwei Verbänden (Curafutura und Santésuisse), die einander öfter bekämpfen. Sie schwächt die Kontrollmacht über die Versicherten.
Das Parlament hat diese Schwächung gewollt. «Heute haben die Leistungserbringer ein Vetorecht», sagt ein hoher Funktionär beim Bund, der nicht namentlich zitiert sein will. Dies wissen Lobbyisten vom Schlage Stüdelis und die Physiotherapiebranche. Am Ende werden sie den Kampf gegen Berset gewinnen, und die Prämienzahlenden verlieren.
So wird auch der Nachfolger Alain Bersets als Gesundheitsminister nicht wirklich eingreifen können. Die Story hat kein Happy End, ausser dass die Leistungsanbieter höhere Gewinne erzielen und dass Versicherte immer häufiger zur Therapie gehen dürfen, koste es, was es wolle.