Das grosse Euro-Bilanz-Interview mit Turnierboss Martin Kallen
«Für Flitzerfotos werden fünfstellige Summen bezahlt»

Turnierboss Martin Kallen zieht vor Spiel 51 der Euro Fazit. Ein positives. Kaum Ausschreitungen. Kaum Rote Karten. Stimmige Kartenkapazitäten. Er liefert aber auch die Erklärung für die vielen Flitzer.
Publiziert: 13.07.2024 um 00:01 Uhr
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Aktualisiert: 13.07.2024 um 08:22 Uhr
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Turnierboss Martin Kallen bei der Ehrung der Volunteers der EM 2024 im Unteren Hofgarten in München am Donnerstag.
Foto: IMAGO/Bihlmayerfotografie
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Alain KunzReporter Fussball

Blick: Tja, Martin Kallen, waren das jetzt, in Anlehnung an die Olympischen Spiele, the best championships ever?
Martin Kallen:
(lacht) Es war eine sehr gute Europameisterschaft, die viel Freude bereitet hat. Viele ausländische Gäste kamen nach Deutschland, hatten eine gute Zeit, es war friedlich, der Fussball recht gut mit ein, zwei Überraschungen. Unter dem Strich: gelungen!

Wars nun ein Sommermärchen?
Das wäre es nur dann gewesen, wenn Deutschland Europameister geworden wäre. Aber so? Wars eine gute Visitenkarte für das Land mit einem Team, das guten Fussball bot.

Martin Kallen persönlich

Martin Kallen (60) ist seit 2015 CEO Uefa Events SA. Und so auch Turnierdirektor der Europameisterschaft. Die Euro 2024 wird die sechste Europameisterschaft sein, die er auf die Beine stellt. Die Erste, jene in Portugal 2004, musste er in 22 Monaten aus dem Boden stampfen. Er kommt aus Frutigen BE, ist gelernter Betriebsdisponent und studierte später Betriebsökonomie. Er arbeitet seit 1994 für die Uefa. Die Stelle als Marketingassistent kriegte er mehr aus Zufall, als er sich auf ein Inserat in der NZZ bewarb. Kallen ist Fan von YB, unterstützt als Berner Oberländer aber auch den FC Thun. Er kickte bis 17 beim FC Frutigen als Verteidiger, manchmal auch als Libero, und geht regelmässig joggen.

Martin Kallen (60) ist seit 2015 CEO Uefa Events SA. Und so auch Turnierdirektor der Europameisterschaft. Die Euro 2024 wird die sechste Europameisterschaft sein, die er auf die Beine stellt. Die Erste, jene in Portugal 2004, musste er in 22 Monaten aus dem Boden stampfen. Er kommt aus Frutigen BE, ist gelernter Betriebsdisponent und studierte später Betriebsökonomie. Er arbeitet seit 1994 für die Uefa. Die Stelle als Marketingassistent kriegte er mehr aus Zufall, als er sich auf ein Inserat in der NZZ bewarb. Kallen ist Fan von YB, unterstützt als Berner Oberländer aber auch den FC Thun. Er kickte bis 17 beim FC Frutigen als Verteidiger, manchmal auch als Libero, und geht regelmässig joggen.

Keine gute Visitenkarte gaben die deutschen Fans mit den Pfiffen gegen Spaniens Marc Cucurella im Halbfinal ab. Nur weil der ein nicht geahndetes Handspiel begangen hat …
Das war unnötig. Man muss faire Verlierer sein.

Schauen wir ein paar weitere Punkte vertieft an: Bei einigen Spielen kam es zu einem totalen Verkehrskollaps. Egal ob auf Strasse oder Schiene. So in Gelsenkirchen bei England – Serbien.
Dieses Spiel lief nicht so ab, wie es hätte ablaufen sollen. Aber es war weniger dramatisch, als gewisse Leute sagten. Ich war auch dort. Fans haben die Notbremse gezogen und wanderten auf den Gleisen herum.

In Berlin gabs ellenlange Schlangen vor den Foodständen und Toiletten.
Toilettenprobleme gabs nur in Berlin, weil es da zu wenige WCs im Verhältnis zur Zuschauerzahl hat.

Thema Nachhaltigkeit, das sie sich ins Heft für diese EM geschrieben haben: Da helfen weder sinnlos Air-condition-heruntergekühlte Medienzentren noch Flüge über 132 Kilometer wie bei den Türken.
Das stimmt. Wir haben versucht, diese Spiele dort nachhaltig zu machen, wo am meisten Emissionen entstehen. Also vor allem bei den Reisen. Die meisten Fans reisten mit dem ÖV, in Bussen oder mit dem Auto an. Weniger in Flugzeugen. Und die Emissionen, die dann entstehen, entgelten wir. Das ist nachhaltig. Die Mannschaften, die geflogen sind, haben diese Emissionen auch entgolten. Einer Profimannschaft kann man das Fliegen nicht ganz verbieten.

Okay, aber der Türken-Flug war Schwachsinn.
Einverstanden. Aber wie gesagt: Wir können nicht alles vorschreiben.

Nachhaltig sind die Pfand-Bierbecher. Aber nicht, wenn sie als Wurfgeschosse verwendet werden.
Das war Seich … Aber es gibt schon ein Gegenmittel. Nämlich, dass die Fans in gewissen Sektoren die Becher nicht mitnehmen dürfen. Das haben wir teilweise dann gemacht. Aber dann werfen die unbelehrbaren Münzen oder Feuerzeuge.

Positiv: Es gab kaum Ausschreitungen. Stimmt diese Aussenwahrnehmung?
Absolut. Es war beeindruckend, wie friedlich diese Spiele waren. Es gab die eine oder andere Schlägerei in oder vor einer Bar. Aber die Zahlen sind sehr tief. Die Fans kommen, um den Event zu feiern und eine schöne Zeit zu haben. Es wäre super, wenn sich das im Fussball so weiterentwickeln würde.

Auch nach dem Halbfinal zwischen England und Holland zogen Sieger und Besiegte gemeinsam durch die Strassen Dortmunds. Friedlich. Selbst als sie in hoffnungslos überfüllten Zügen teils eingeschlossen lange Zeit warten mussten …
Es waren ja nur schon 100'000 Holländer in einer verhältnismässig kleinen Stadt wie Dortmund. In der Schweiz hätten wir die Bahnhöfe schliessen müssen. So wie in Basel 2008 nach dem Viertelfinal mit den Holländern. Selbst bei grosser Kapazität bringt man so viele Leute in einer kurzen Zeit wie zwei Stunden nicht fort. Denn alle wollen auf die ersten Trams und Züge. Ich bin nachts um ein Uhr zurückgegangen. Da hatte sich alles ziemlich beruhigt. Im ÖV war oft ein rechtes «Gestungg». Aber in der Rush-Hour muss man damit rechnen.

Zum Fussball: Ich denke, es gibt keine Möglichkeit, dass Topspieler, die bis zu sechzig Spiele in den Beinen haben, Ende Saison nicht überspielt und müde sind. Mbappé, Kane, De Bruyne …
Nein, da sehe ich keinen anderen gangbaren Weg. Denn einen anderen Termin gibts nicht. Aber es gab auch Spieler, die bessere Leistungen erbrachten als erhofft. Damit muss man umgehen können. Der Spieler selbst. Team und Staff müssen entsprechend umorganisieren.

Und die Uefa hilft da kräftig mit, mit immer mehr Spielen.
Es gibt viele Spiele, das stimmt. Es wird viel verlangt von den Spielern. Es kann nicht jeder voll in Form sein. Das muss man akzeptieren.

Nicht nur die Fans waren fair, auch die Spieler. Es gab nur eine einzige direkte Rote Karte in nun 50 Spielen. Dazu zwei Gelb-Rote und zwei Platzverweise für Spieler, die nicht auf dem Feld waren. Das tönt nach der fairsten EM aller Zeiten.
Ich habe bei keinem Spiel, das ich gesehen habe, ein extrem bösartiges Foul gesehen. Die Spieler gingen sehr respektvoll miteinander um.

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Es gibt einen Code of Conduct, den jeder kennt.
Martin Kallen, Turnierboss
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Unterstützen sie das Strafmass von zwei Spielen gegen den Türken Demiral wegen des Wolfsgrusses?
Es gibt einen Code of Conduct, den jeder kennt. Sobald es politisch wird, schreitet die Disziplinarkommission ein. Wir kennen das ja von der Schweiz mit dem Doppeladler. Jeder weiss, dass das geahndet wird.

Es gab das Schweizer Trainingsrasen-Gate. Und der Frankfurter Rasen war bis zum letzten Match nicht gut.
Der hätte besser sein können. Das haben wir nicht hundertprozentig in den Griff gekriegt, muss ich zugeben.

In den Gruppenspielen haben die Teams 11'000 Tickets für eigene Fans gekriegt. In der K.o.-Phase nur noch 7000, obwohl man nur noch in grossen Stadien spielte. Das haben nicht alle verstanden.
Ganz einfach: In den Achtel- und Viertelfinals haben viele Teams nicht mehr Tickets gebraucht. Man hat nur zwei Tage Zeit, diese zu verkaufen. Für die Fans ist es oft schwierig, spontan anzureisen. Viele Mannschaften haben die Kapazität von 7000 Tickets nicht ausgeschöpft. Die Schweiz hatte ihre im Achtelfinal knapp weggebracht. Bei den Engländern lag die Nachfrage nur knapp über der Quote. Seit Jahren schauen wir, dass wir eine gute Quote haben, die alles abdeckt.

Erstmals waren die Tickets voll elektronisch. Konnte der Schwarzmarkt dadurch ausgetrocknet werden?
Es hat ihn eingedämmt. Aber vollends geht das nie.

Die Ticket-App hat sich bewährt?
Absolut! Wenn Leute technische Probleme hatten, waren Volunteers schnell zur Stelle.

Die Anspielzeit 21 Uhr ist nicht ideal.
Ist sie nicht, nein. Ideal wäre ein bisschen früher. Auch für Familien mit Kindern. Aber man muss alle Märkte berücksichtigen: TV, Abendverkehr und und und. Es ist die spätestmögliche Kickoff-Zeit. Eine bessere Zeit haben wir bisher nicht gefunden.

Weil halt die EM in den meisten grossen Ländern im Free-TV gezeigt wird. Und die haben um zwanzig Uhr die Hauptausgabe ihrer Nachrichtensendungen.
Ganz genau so ist es.

Es gab viele Flitzer. Stimmt es, dass da bis 300'000 Franken für Flitzerfotos bezahlt werden? Weshalb die Uefa die Bilder zensuriert.
Es gibt heute Organisationen, welche hohe Prämien im fünfstelligen Bereich vergeben für Flitzerfotos mit ihrem Branding. Wenn wir die zeigen, kommen noch mehr.

Hat der Fernsehzuschauer kein Anrecht auf Bilder von dem, was passiert?
Er kann es sich in den sozialen Medien anschauen.

Wie hat sich die Deutsche Bahn geschlagen?
Die Kapazität ist einfach zu klein. Dann ist man auf weite Distanzen immer zu spät. Ich habe zwölf grössere Fahrten unternommen. Fünfmal war die Bahn pünktlich. Darauf muss man sich einstellen.

Die Finalaffiche? Gut – oder?
Super! Auch wenn ich noch lieber Spanien oder Deutschland gegen die Schweiz gehabt hätte …

Der Tipp?
Spanien ist die beste Mannschaft und wird Europameister!

Und England wird sicher noch lieber auf heimischem Terrain in vier Jahren gewinnen. Und Sie werden dann auch noch dabei sein, wenn die britische Euro ansteht.
Das ist mein Ziel, ja.

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