Auf einen Blick
- Schweizer Verkehrspolitik im Schock: Autobahn- und Bahnausbau auf Eis gelegt
- Mobility Pricing als mögliche Lösung für effizientere Nutzung der Verkehrsinfrastruktur
- Bahnausbau 2035 kostet 30 statt 16 Milliarden Franken, ein finanzielles Debakel
Die Schweizer Verkehrspolitik ist gecrasht. Nach der heftigen Schlappe beim Autobahnausbau hat Verkehrsminister Albert Rösti (57) vorerst alle weiteren Projekte im Schnellstrassennetz auf Eis gelegt. Neben den vor einer Woche vom Volk gestoppten Bauvorhaben sind 24 weitere, teils weit fortgeschrittene Ausbaupläne mit einem Gesamtvolumen von 18 Milliarden Franken zumindest vorläufig sistiert: ein Triumph für die links-grünen Gewinner der Abstimmung vom vergangenen Sonntag. Sie sprechen bereits von einer historischen Verkehrswende.
Inzwischen erlebten aber auch alle, die ultimativ die Verlagerung von Verkehr auf die Schiene fordern, einen Schlag in die Magengrube. Vier Tage nach dem Autobahn-Nein verkündete das Bundesamt für Verkehr (BAV), dass auch der Bahnausbau entgleist ist. Und zwar heftig: Der sogenannte Ausbauschritt 2035 soll statt 16 Milliarden nun 30 Milliarden Franken kosten. Ein Debakel!
Wie es mit dem Ausbau, der neue Halb- und Viertelstundentakte und 20 Prozent mehr Sitzplätze bringen sollte, weitergehen soll, weiss niemand. BAV und SBB müssen sämtliche Projekte noch einmal durchleuchten. Sicher ist: Der Ausbauschritt 2035 wird erheblich kleiner als versprochen und Jahre länger dauern als geplant.
SBB: schon heute am Anschlag
Dass sich gemäss Blick-Recherchen ausgerechnet SBB-Chef Vincent Ducrot (62) privat für ein Ja zum Autobahnausbau engagierte, erscheint vor diesem Hintergrund in einem neuen Licht.
Bereits während des Abstimmungskampfs muss dem mächtigen Bahn-Manager klar geworden sein, dass bei einem Nein der Druck auf die SBB weiter steigen würde. Doch für eine nennenswerte Verlagerung von Verkehr auf die Schiene fehlen der Bahn die Kapazitäten – das gilt nach dem Kosten-Debakel beim Bahnausbau mittelfristig umso mehr. Die SBB kommentieren denkbare Auswirkungen der Autobahn-Abstimmung nicht. Sie teilen lediglich mit, dass die zunehmende Mobilität nur im Zusammenspiel aller Verkehrsträger bewältigt werden könne.
Offen bleibt, wie das geschehen soll. Während der Verkehr – ob Strasse oder Schiene – weiter zunehmen wird, steckt die Verkehrspolitik im Vollstau. Thomas Sauter-Servaes (50), promovierter Ingenieur und Mobilitätsforscher an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), sieht deshalb eine historische Chance, den bisherigen Kurs zu wechseln: «Die Schweiz betoniert seit Jahrzehnten ständig der ausufernden Mobilität hinterher, statt in neuen Visionen zu denken.»
Für Sauter-Servaes ist klar: Die bestehende Infrastruktur muss, statt immer weiter ausgebaut – effizienter genutzt werden. Dies aber könne nur mit einer Lenkung über den Preis funktionieren. Das sperrige Zauberwort dafür lautet: Mobility Pricing.
Wer Strasse oder Schiene nutzt, soll dafür zahlen
Die Idee dahinter: Das Benutzen von Verkehrsinfrastruktur wird in den Stosszeiten teurer gemacht. So sollen die Verkehrsspitzen am Morgen und am Abend geglättet und das Verkehrsaufkommen besser über den Tag verteilt werden. Zur Hauptverkehrszeit soll nur noch unterwegs sein, wer wirklich muss. Wer auf andere Zeiten wechselt, wird finanziell belohnt.
Das Mobility Pricing kann zudem für mehr Kostenwahrheit sorgen, indem die externen Belastungen von Umwelt oder Gesundheit in die Preise eingerechnet werden. Dafür zahlt bisher die Allgemeinheit – allein beim Autoverkehr belaufen sich die externen Kosten laut Berechnungen des Bundesamts für Raumentwicklung (ARE) auf 21 Milliarden Franken – pro Jahr.
Mobility Pricing könnte nicht nur ein Instrument zur Verkehrslenkung sein, sondern auch die bisherige Finanzierung der Infrastruktur ablösen. Weil mit dem Vormarsch der Elektrofahrzeuge die Einnahmen aus der Mineralölsteuer wegbrechen, muss sie ohnehin neu geregelt werden. Der Gedanke, sie nach dem Verursacherprinzip zu finanzieren, tönt auch für wirtschaftsnahe Kreise interessant. Economiesuisse verkündete bereits 2010, dass Mobility Pricing eine langfristige Lösung sein könnte. Allerdings nur, so der Wirtschaftsdachverband, wenn alle Verkehrsträger einbezogen werden.
Das betrachtet auch Sauter-Servaes als zentral. Das Auto dürfe nicht verteufelt werden. «Die Verkehrsspitzen glätten können wir nicht, wenn eine Autofahrerin einfach zur Stosszeit auf den Zug umsteigt.» Der Mobilitätsforscher ist überzeugt, dass nicht nur Einzeltickets im Stossverkehr teurer werden müssten, er hinterfragt auch das Generalabonnement. «Es gibt keinen Grund, warum ein GA-Besitzer nicht auch über den Preis gelenkt werden sollte.»
Das Ausland macht es vor
Dass Mobility Pricing funktionieren kann, zeigen Beispiele in Stockholm, London, Oslo oder Washington, D. C. Dort haben dynamische Preise den Verkehr verflüssigt, die Fahrzeiten verkürzt und die Lebensqualität der vom Verkehr belasteten Bevölkerung verbessert. Eins zu eins lassen sich die Erfahrungen internationaler Metropolregionen aber schwer auf die kleinräumige Schweiz übertragen.
Doch auch bei uns ist die Idee vom Mobility Pricing in der Politik angekommen. Der Bundesrat arbeitet seit Jahren daran, Testläufe in Städten und Kantonen zu ermöglichen. Berechnungen und Feldversuche zeigten zudem, dass das Modell auch bei uns die gewünschte Wirkung entfalten würde. Nun sollen Pilotprojekte folgen. Derzeit werden Machbarkeitsstudien aus Genf und Frauenfeld TG ausgewertet.
Die SBB versuchen bereits, die Passagierströme über den Preis zu lenken. 25'000 Spartickets werden laut SBB pro Tag verkauft. Mit den Rabatten sollen vor allem Freizeitreisende motiviert werden, bereits stark belastete Verbindungen zu meiden.
Niemand will sich die Finger verbrennen
Abgesehen von der SVP gibt es bei den Parteien keine generelle Opposition gegen Mobility Pricing – zumindest nicht gegen Pilotprojekte. Wird es konkret, könnte sich die Stimmung in der Politik allerdings rasch ändern.
Damit Mobilität besser über den Tag verteilt werden kann, muss das Pendeln zur Hauptverkehrszeit nämlich im Portemonnaie wehtun. Im Hinblick auf kommende Wahlen ist dieser Gedanke bei Politikern aber nicht populär. Während bürgerliche Kräfte mit höheren Abgaben für den motorisierten Individualverkehr grundsätzlich Mühe haben, verweist das linke Lager auf die soziale Verträglichkeit: Dynamische Preise dürften nicht jene bestrafen, die nicht selbst entscheiden können, wann sie zur Arbeit fahren.
Das allein zeigt schon, wie schwierig es werden dürfte, eine Vision wie Mobility Pricing in eine mehrheitsfähige politische Vorlage zu verwandeln. Und auch in der Bevölkerung haben solche Modelle einen schweren Stand. Dies belegte im Vorfeld der Autobahn-Abstimmung eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Sotomo.
In Schwedens Hauptstadt Stockholm war das nicht anders. Als vor gut 15 Jahren über eine City-Maut mit dynamischen Preisen diskutiert wurde, sprach sich eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung dagegen aus. Doch nach einem halbjährigen Testbetrieb drehte die Stimmung. Das System hat bis heute Bestand.