Darum steht Pierin Vincenz vor Gericht
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Monster-Prozess in Zürich:Darum steht Pierin Vincenz vor Gericht

Laster, Leiden und Läuterung – der Gerichtsreport
Das Martyrium des heiligen Pierin

Pierin Vincenz stand einst auf dem Olymp der Macht. Nun steht er vor dem Schlimmsten, das einem wie ihm widerfahren kann: Sein Schicksal liegt in fremden Händen. Beobachtungen aus dem Prozess.
Publiziert: 30.01.2022 um 00:51 Uhr
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Aktualisiert: 31.01.2022 um 10:26 Uhr
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Widersprüche: Der Hauptangeklagte auf dem Weg zum Gericht.
Foto: keystone-sda.ch
Reza Rafi

Der Hochnebel taucht alles in Grau. Zehn Minuten schon wartet Pierin Vincenz an der Seite seines Verteidigers Lorenz Erni vor der geschlossenen Eingangstür des Zürcher Volkshauses im Kreis 4.

Es ist Dienstag, kurz vor 16 Uhr – zweite Runde am ersten Verhandlungstag im aufsehenerregendsten Wirtschaftsprozess seit langem. Scheu, ehrfürchtig fast, umzingeln Journalisten den Mann, dessen früheren Alltag sie nun wochenlang auseinandergenommen haben – bis hinunter zu jedem einzelnen Barbesuch. Der Angeklagte lächelt, er wirkt sympathisch-verschmitzt. Die Nächte mit ihm im King’s Club müssen lustig gewesen sein. Geniesst Vincenz die Situation? Oder ist er ein gerissener Mime?

Wer steckt hinter der Fassade?

Der frühere Bündner Starbanker, die gefallene Lichtgestalt der Finanzwelt, einst gefeiert als Gegenentwurf zu den «Gnomen der Bahnhofstrasse», ist für die Öffentlichkeit eine Sphinx. Steckt hinter der lässigen Fassade bloss ein unbescholtener Erfolgsritter mit zu vielen Neidern? Ein allzu hoch gestiegener Sparkassenverwalter aus der Provinz? Oder im Sinne der Anklage eben doch der nimmersatte Zaster-Zampano, ein Angehöriger jener Spezies, die Michael Douglas 1987 im Film «Wall Street» verkörperte?

Bei der gerichtlichen Befragung jedenfalls verwandelt sich – um bei Leinwandhelden zu bleiben – Gordon Gekko in Buchhalter Nötzli. Plötzlich redet sich der sonst so souveräne Vincenz um Kopf und Kragen.

Bevorzugtes Zahlungsmittel: Firmenkreditkarte

Er steht vor dem Tribunal wie ein Ehemann, der seiner Frau einen Seitensprung erklären muss. Zur Rechnung, die er dem Arbeitgeber aufgebürdet hatte, sagt er, das sei «ein Versehen» gewesen, eine andere ungerechtfertigte Auslage «ein Irrtum». Ob es auch Buchungsfehler zugunsten von Raiffeisen gab, möchte ein Referent wissen. Die Firmenkreditkarte sei halt sein bevorzugtes Zahlungsmittel gewesen, antwortet er.

Zwar soll der Schaden beim mutmasslichen Doppelspiel mit verdeckten Beteiligungen Millionen betragen, doch sind es Spesen von ein paar Hunderttausend Franken, die den Fall so populär machen.

Nachtessen im Stripclub?

Ging man zum Dinner ins Cabaret oder erst danach, will das Gericht wissen. Vincenz: «Nach dem Nachtessen hat man dort die Gespräche weitergeführt.» Wieso sind die Ausgaben in Stripclubs denn als Nachtessen verbucht? Das sei halt so ein spezielles Reglement gewesen, «das hat sich so eingebürgert». Der Angeschossene sagt, dass er mit dem Raiffeisen-Verwaltungsratspräsidenten darüber gesprochen habe, wo diese Spesen entstanden seien. Der aber widerspricht laut Einvernahmeprotokollen.

Es folgen weitere Widersprüche, aus denen sich Vincenz nicht so richtig befreien kann. Was war an der Australienreise mit der Familie geschäftlich? «Australien war bekannt für ein sehr intensives Filialnetz.» Das habe er sich anschauen wollen. Worauf ein Richter trocken konstatiert, der Hauptangeklagte habe in Down Under «Schalterhallen und Kundenzonen von Banken studiert», ohne einen einzigen Branchenvertreter zu treffen. Das Reisebüro Kuoni habe explizit eine Weihnachtsreise angekündigt. Ayers Rock, Alice Springs und Kangaroo Island standen auf dem Programm.

«Ich war noch unerfahren»

Als es um verdeckte Beteiligungen an Firmen geht, mit denen Vincenz bei Raiffeisen-Deals mit dem Kreditkartenunternehmen Aduno Millionen scheffelte, folgt eine Antwort mit Kultpotenzial. Auf die Frage, wieso er seine Aktienkäufe nicht wegen Interessenkonflikten offengelegt habe und in den Ausstand getreten sei: «Ich war noch unerfahren.»

Zu jenem Zeitpunkt war Vincenz um die 50 – und seit Jahren im Business.

Man stelle sich eine Gemeindepräsidentin vor, bei der sich herausstellt, dass sie einen Auftrag an die Werbebude ihres Mannes vergeben hat: «Ich war noch unerfahren.» Oder eine Abteilungsleiterin, die eine Praktikumsstelle statt einer geeigneteren Bewerberin ihrer Tochter zugeschanzt hatte: «Ich war noch unerfahren.» Der KV-Lehrling, in dessen Prüfungsarbeit abgekupferte Passagen auftauchen: «Ich war noch unerfahren.»

Eingemittete Bioschweizer

Das Publikum hat in dem Moment kein gutes Gefühl mehr, dass Vincenz unbescholten aus der Sache herauskommen kann. Dann tritt Beat Stocker auf.

Auch der Kompagnon von Vinzenz trägt einen indigenen Schweizer Familiennamen, wie auffälligerweise fast alle Geschäftsleute, die an diesem Prozess genannt werden. In diesem profitorientierten Milieu hatten vornehmlich wohlig eingemittete Bioschweizer das Sagen: weit und breit keine Expats, Secondos oder Parvenus. Man gehörte nicht zu dieser durchglobalisierten Kaste vom Paradeplatz, die bei der Finanzkrise 2007 in Verruf geraten war.

Einen Migrationshintergrund weisen in diesem Drama nur Tänzerinnen und Prostituierte auf.

Stocker blüht auf

Der von Multipler Sklerose geplagte Stocker blüht vor Gericht auf. Er gibt sich nicht wie Vincenz als golfender Rentner, sondern als Macher, der überall eine Chance sieht: «Auch diese Untersuchung hat mir unternehmerische Ideen gegeben, für die ich mich einsetze.» Stocker sorgt auch mal für Erheiterung. Ob er Jus studiert habe, fragt ihn der Gerichtspräsident. «Zum Glück nicht», antwortet der Ökonom vor allen Anwälten im Raum.

Geschmeidig bleibt Stocker auch, wenn es ans Eingemachte geht. Die Beschuldigungen gegen ihn pariert er jeweils mit einer Kunstpause, auf die dann Sprachakrobatik folgt.

«Skin in the Game»

Die Geheimnistuerei um die Beteiligungen? Stocker holt Luft und seufzt über diesen ständigen «Reflex Beteiligung gleich Interessenkonflikt». Als ob das Einhalten grundlegender Compliance-Prinzipien eine deplatzierte Marotte wäre. Er sei immer noch überzeugt, dass dieser Konflikt nicht eintreten müsse.

Und die Diskretion? Die hätte es ihm einfacher gemacht, weitere Investoren zu holen. Zugleich sei dadurch sein Mitinvestor Vincenz vor «Begehrlichkeiten» anderer Unternehmer geschützt gewesen. Überhaupt redet Stocker lieber von «Verantwortung», von «Skin in the Game», also dem persönlichen Risiko, das er übernommen habe.

«Hätte den VR informieren müssen»

Es sind kaum spontane Statements, die Stocker abgibt, sondern in den Jahren des Strafverfahrens gereifte Antworten. Stets in sich kohärent. Und wenn nicht, heisst es: «Hatte es nicht so in Erinnerung.» Oder: «Das ist jetzt meine gestützte Erinnerung.» Und die Idee mit dem Raiffeisen-Stadion? «War ein Furz.»

Er zögert nur, als es um die Verheimlichung seiner Doppelrolle als Aduno-CEO und Commtrain-Aktionär in Personalunion geht: «Ich hätte den VR informieren müssen.» Das sei ihm nach dem Gutachten von Anwalt Peter Forstmoser klar geworden, inzwischen sei er «zivilrechtlich geläutert». Offenbar haben Manager auf dieser Flughöhe eine teure Expertise nötig, um von den einfachsten Regeln der Corporate Governance zu erfahren. Der Grund für Stockers Äusserung scheint indes nicht Reue zu sein, sondern Banaleres: «Ich hätte heute weniger Ärger, wenn ich informiert hätte.»

Platz machen fürs Ballett

Mit jovialer Herablassung zeigt er sich von den jüngeren, ambitionierten Staatsanwälten enttäuscht. Er sei empört, wenn er lese, was ihm an krimineller Energie zugemutet werde. «Ich hatte geglaubt, dass man mich besser kennengelernt hätte in dieser Untersuchung.» Das Auftreten des Angeklagten droht in Arroganz zu kippen. Ob sich Stockers Operation Teflon auszahlt? Man wird sehen.

Am dritten Tag zieht das Gericht in einen kleineren Saal um. Die Konzerthalle ist für eine Ballettaufführung reserviert (Raiffeisen-Kunden geniessen Rabatt, weiss Blick Online). Nur noch 15 Medienleute werden zugelassen. Auch Lukas Hässig muss draussen bleiben, der Journalist, der 2016 den allerersten Artikel über den Fall publiziert und damit die Causa Vincenz angestossen hatte.

Der heimliche Star des Prozesses

Es folgen die Plädoyers der Parteien. Die Anklage klotzt und trumpft mit einem abgehörten Telefonat und einem Notizzettel auf, die das systematische Vorgehen des Duos beweisen sollen.

Tag vier gehört dem heimlichen Star des Prozesses, Vincenz’ prominentem Anwalt Lorenz Erni. Er war es auch, der am Dienstag nach der Eröffnung durch Gerichtspräsident Sebastian Aeppli das erste Votum an der Verhandlung zu Protokoll gab. Er bringe einen unpopulären Antrag vor, «aber ich bin ja nicht hier, um für Popularität zu sorgen, sondern um die Strafprozessordnung einzuhalten».

Der Gegenschlag der Verteidiger

Erni hatte vergeblich den Abbruch des Verfahrens verlangt, weil ein Mitangeklagter aus gesundheitlichen Gründen erst im Februar befragt wird. Das tat er in recht belehrendem Ton. Wer das Gericht so unverblümt massregelt wie Erni, braucht eine gehörige Portion berufliche Selbstsicherheit.

Über fünf Stunden zerpflückt er dann, am Freitag, die Anklageschrift, weist sämtliche Vorwürfe zurück, hebt Vincenz’ Leistungen für die Bank hervor, stellt die Beteiligung seines Mandanten an den Firmen infrage – ausser Commtrain – und damit die Basis der Anklage. Auch Stockers Anwalt Andreas Blattmann verlangt vollumfänglichen Freispruch seines Klienten. Rhetorisch setzt er auf biederes Durchdeklinieren seiner Argumente, die perfekte Einschläferungstaktik für juristische Laien.

Er wickelte alle um den Finger

Mit Prognosen sind die Prozessbeobachter vorsichtig. Ein beteiligter Anwalt hält es für gut möglich, dass nur «Peanuts» übrig bleiben. Sprich: eine Verurteilung wegen der Spesengeschichte, nicht aber wegen gewerbsmässigen Betrugs. Für alle Angeklagten gilt die Unschuldsvermutung.

Wie immer das Verdikt lauten wird: Die Öffentlichkeit rätselt vor allem, wie es Pierin Vincenz, der als Bankenchef zig Millionen verdiente, fertiggebracht hat, heute nach eigenen Angaben verschuldet zu sein. Vor einem Jahrzehnt war er Everybody’s Darling und wickelte alle um den Finger, von der Showszene über die Zürcher Zünfte bis hin zur Finanzministerin. 2015 erhielt er die «Arosa Humorschaufel». Und ja, auch im Haus Ringier, das den SonntagsBlick herausgibt, war er gerne gesehen. Er stand ganz oben, auf dem Olymp.

Seit Vincenz vor Gericht steht, ergiessen sich Spott und Häme über ihn. Das ist verständlich – und doch sei an die folgenden Zeilen des Philosophen Friedrich Nietzsche erinnert: «Er sinkt, er fällt jetzt, höhnt ihr hin und wieder; Die Wahrheit ist: er steigt zu euch hernieder.»

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