Pierin Vincenz (65) ist ein «Kraftwerk von Mann», wie die «Zeit» ihn nennt. 1,82 Meter gross, von der Statur stramm wie ein Bauer – der ehemalige Gebirgsinfanterie-Kommandant war ein ideales Aushängeschild für die Bauernbank Raiffeisen.
An Pressekonferenzen wirkte der Raiffeisen-CEO immer auch witzig und ironisch. Vincenz spricht alle vier Landessprachen und war immer rasch mit allen per Du. Er mag Folklore und das Mondäne. Das kam bei Kleingewerblern und beim Establishment an. Kaum jemand konnte sich seiner Ausstrahlung entziehen.
Schon Vater Gion Clau Vincenz (1921–2014) war eine Respektsperson: CVP-Ständerat mit vielen hohen Ämtern, darunter Raiffeisen-Verwaltungsratspräsident. Stammhalter Pierin war Klosterschüler in Disentis und habe schon damals erklärt, Showstar oder Profifussballer zu werden. Vincenz wusste, er konnte sich ganz auf seine Redner- und Schauspielkünste verlassen.
Teuerste Nacht seines Lebens
Vincenz engagierte sich auch sozial. Er war reich, beliebt und ein Gönner. Der offenbar auch seine Triebe nicht zurückhalten konnte: Cabarets, Stripclubs, Bordelle und Tinder – Vincenz wusste sich zu vergnügen.
Dazu Ferienfreuden mit Familie, Freunden und Kollegen mit gecharterten Limousinen, Helikoptern und Privatjets. Die Zürcher Staatsanwälte wollen 560'709.10 Franken an unrechtmässiger Bereicherung belegen können. Plus all die Insidergeschäfte im zweiten Teil der Anklageschrift. Verschachtelte Deals über 17 Konten hinweg. In welchem Ausmass das gelingt, wird sich in dieser Prozesswoche zeigen.
Viele Details gibts zur superteuren Nacht von Pierin Vincenz im Zürcher Park-Hyatt-Hotel. Vincenz’ Geliebte, eine Tänzerin, erwischt ihn in der Nacht vom 11. auf den 12. Juni 2014 mit einer anderen. Die Situation eskaliert. Und kommt Vincenz – und Raiffeisen – teuer zu stehen.
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Übermensch
3778 Franken für Schäden an Wänden, Teppich und Inventar der Suite 507 werden Raiffeisen untergejubelt. Der Anwalt, der die Affäre regelt, erhält 30'000 Franken, die ebenfalls Raiffeisen vergütet. 1,5 Millionen Franken gehen an die Bettgenossin, für die Wiedergutmachung ihrer Wunden.
Die Grenze zwischen Genie und Kriminellem verschwimmt oft. Vincenz erachtete sich selber wohl als Übermensch. Er ist der geborene Kommunikator, der seine Gegenüber um den Finger zu wickeln verstand. Die Vorwürfe der Zürcher Staatsanwaltschaft 2018 gegen den vielfachen Verwaltungsrat und nimmermüden Mitmenschen wurden erst von vielen für einen Irrtum gehalten. Drei Jahre später dokumentiert die 356-seitige Anklageschrift ein Leben von Vincenz in Saus und Braus auf Kosten der Raiffeisen.
Seit seiner Entlassung aus 106 Tagen Zürcher Untersuchungshaft ist der Ex-Banker abgetaucht. Vincenz meldet sich nicht zu Wort. Es ist unklar, wo er lebt. Sein erster Auftritt am Dienstag, 25. Februar vor Gericht, nach Jahren weg von der Bühne, wird mit Spannung erwartet. Ein Berufskrimineller sei er, sagt Staatsanwalt Marc Jean-Richard-dit-Bressel. Und fordert sechs Jahre Haft für gewerbsmässigen Betrug. Bis zu einem Urteil gilt die Unschuldsvermutung für alle Beteiligten. (kes)