«Die Material-Schlacht hat mich überrascht»
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Rückblick auf Vincenz-Prozess:«Die Material-Schlacht hat mich überrascht»

Wie viel Macht hat Richter Aeppli über Pierin Vincenz?
«Die Biografie ist wichtiger als das Parteibuch»

Sie entscheiden über die Zukunft von Menschen – doch welchen Spielraum haben sie dabei? Eine Richterin und ein Richter geben Auskunft über ihre Arbeit.
Publiziert: 30.01.2022 um 00:48 Uhr
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Ist Pierin Vincenz (65) ein Betrüger, der Raiffeisen arglistig um Millionen gebracht hat? Oder nur ein Filou, der seinen Arbeitgebern ein paar delikate Deals verschwieg?
Foto: Philippe Rossier
Thomas Schlittler

Sie entscheiden über die Zukunft von Menschen – doch welchen Spielraum haben sie dabei? Eine Richterin und ein Richter geben Auskunft über ihre Arbeit.

Ist Pierin Vincenz (65) ein Betrüger, der Raiffeisen arglistig um Millionen gebracht hat? Oder nur ein Filou, der seinen Arbeitgebern ein paar delikate Deals verschwieg?

Ausgang noch unklar

Fragen wie diese wurden diese Woche im Zürcher Volkshaus verhandelt. Wie das Urteil ausfallen wird, ist völlig offen: Sechs Jahre Haft und eine Abschöpfung von mehreren Millionen Franken, wie die Staatsanwaltschaft fordert? Oder ein Freispruch auf ganzer Linie, wie es die Verteidigung verlangt?

Die Entscheidung liegt beim Bezirksgericht Zürich, genauer beim dreiköpfigen Richtergremium: dem Vorsitzenden Sebastian Aeppli (63) sowie seinen Kollegen Rok Bezgovsek und Peter Rietmann– einem Grünen, zwei Sozialdemokraten.

Welchen Einfluss hat Parteizugehörigkeit?

«Kein besonders wirtschaftsaffiner Eindruck», so die «NZZ am Sonntag». Doch ist das entscheidend? Hätte Vincenz bei Richtern, die der wirtschaftsnahen FDP angehören, bessere Chancen auf ein mildes Urteil?

Martin Schubarth (79), von 1982 bis 2004 Bundesrichter, schüttelt den Kopf: «Nach meiner Erfahrung spielt es keine Rolle, ob ein Richter den Grünen oder der SVP angehört.» Er finde es deshalb auch nicht gut, dass in den Medien immer öfter erwähnt werde, bei welcher Partei ein Richter Mitglied sei.

Gewissen Spielraum

Anastasia Falkner (53), Oberrichterin im Kanton Bern und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Vereinigung der Richterinnen und Richter, betont ebenfalls, dass sich von der Parteizugehörigkeit nichts ableiten lasse: «In anderen Ländern wie den USA mag das anders sein, wie der Supreme Court zeigt. Da werden die Richter aber auch explizit wegen ihrer Parteizugehörigkeit respektive ihrer politischen Ideologie nominiert – und das ist dann natürlich mit gewissen Erwartungen verknüpft.»

Ganz egal, wer am Richterpult sitzt, ist es aber auch in der Schweiz nicht. «Die persönlichen Grundvorstellungen eines Richters können bei der Auslegung des Rechts durchaus einen Einfluss haben», gesteht Schubarth ein.

Biografie des Richters ist wichtiger

Für den Begriff Arglistigkeit zum Beispiel, der im Vincenz-Prozess eine wichtige Rolle spielt, gebe es keine absolute Definition – handelt es sich um Täuschung durch Unterlassen oder durch konkludentes Handeln? «Die Biografie eines Richters ist für die Beantwortung solcher Fragen aber wichtiger als das Parteibuch», so der ehemalige Bundesrichter. Im aktuellen Prozess zum Beispiel falle es einem Richter, der früher als Anwalt in der Privatwirtschaft tätig war, möglicherweise leichter, sich in den Fall hineinzudenken.

Falkner ergänzt: «Richterinnen und Richter sind Menschen und haben ganz unterschiedliche Wertvorstellungen – und diese tragen sie auch in den Gerichtssaal.» Das beeinflusse zwar die Art der Befragung sowie den Umgang mit den Beschuldigten, habe aber nicht unbedingt einen Einfluss auf das Urteil. «Jeder Jurist interpretiert Gesetzesartikel ein bisschen anders. Letztlich sind Richter aber dem Recht verpflichtet und der höchstrichterlichen Rechtsprechung; ihr Ermessensspielraum ist deshalb beschränkt», stellt Falkner fest.

Obergericht kann intervenieren

Rechtsanwalt Adrian Ettwein (59) teilt diese Einschätzung. Er war von 2002 bis 2015 Staatsanwalt des Bundes im Bereich Wirtschaftsdelikte und sagt: «In all meinen Jahren als Staatsanwalt hatte ich nie das Gefühl, dass ich bei einem Richter bessere Chancen hätte als bei einem anderen.» Ohnehin dürfe ein Gericht nicht einfach entscheiden, was es wolle, sondern müsse sein Urteil genau begründen. «Wenn ein Bezirksrichter nicht sauber arbeitet, wird sein Urteil vom Obergericht gekippt. Und das ist eine Peinlichkeit, die jeder Richter verhindern will.»

Ein wichtiger Faktor sei zudem, dass in vielen Fällen ein Gremium aus drei oder gar fünf Richtern entscheide. «Das verhindert, dass die persönliche Prägung eines einzelnen Richters zu viel Gewicht erhält», so Ettwein.

Und welchen Einfluss haben die Medien? «Die Berichterstattung spielt bei grossen Fällen sicher eine Rolle», räumt Anastasia Falkner ein, «zumindest als Stressfaktor.» Richterinnen und Richter würden damit aber völlig unterschiedlich umgehen. «Einige lesen alles, was über den Fall berichtet wird, andere gar nichts.» Die Oberrichterin glaubt aber nicht an grosse Auswirkungen der Berichterstattung. Denn letztlich habe niemand so einen umfassenden Einblick in einen Fall wie der Richter selbst.

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