Seine lockeren Sprüche vor dem Volkshaus, sein sonnengebräunter Teint, selbst die Cola-Flasche auf seinem Tisch: Jedes Detail ist den Medien eine Meldung wert. Das Interesse am Prozess gegen den gefallenen früheren Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz (65) ist enorm.
So sehr der einstige Vorzeigebanker das Rampenlicht früher suchte, so sehr dürfte er sich jetzt etwas mehr Diskretion wünschen, geht es im Prozess doch unter anderem um ausschweifende Besuche in Striplokalen und um Millionenschulden – keine besonders salonfähigen Themen.
Dass die Medien den Prozess so eng begleiten dürfen, hat allerdings weniger mit Voyeurismus zu tun als vielmehr mit einem wichtigen Rechtsprinzip: dem Öffentlichkeitsgrundsatz. Er besagt, dass jedes Strafverfahren öffentlich ist: Nicht nur Medien haben Zugang, sondern auch andere Interessierte. «Es geht ja nicht einfach darum, dass sich zwei Parteien streiten», erklärt Monika Simmler (32), Strafrechtsprofessorin an der Universität St. Gallen. «Bei Strafprozessen steht eigentlich die Gesellschaft als Ganzes dem mutmasslichen Täter gegenüber.»
Gefahr der Vorverurteilung durch die Medien
Ausnahmen gibt es nur bei besonderen Gründen, etwa um ein Vergewaltigungsopfer vor neugierigen Blicken zu schützen. Dass Vincenz die Öffentlichkeit unangenehm sein könnte, reicht hingegen nicht. «Der Medienrummel steht aber durchaus im Widerspruch zur Unschuldsvermutung», gibt Simmler zu bedenken. «Bevor es überhaupt zu einem Urteil kommt, findet in den Medien eine Vorverurteilung statt. Das beschädigt seinen Ruf, unabhängig vom Urteil.»
Die Medienberichterstattung kann sich sogar auf das Strafmass auswirken: Die Richter können zur Kompensation eine mildere Strafe aussprechen. «Die Medienberichterstattung ist ja auch eine Form der Strafe», argumentiert Rechtsexpertin Simmler.
Staatsanwaltschaft hat erstes Wort
Die Medien hatten in der Causa Vincenz Monate vor Prozessbeginn Zugriff auf die Anklageschrift. Das ist unüblich. Im Fall Rupperswil etwa wurde die Anklageschrift erst Tage vor dem Prozess verschickt. Das liegt wohl auch an der Komplexität des Falls Vincenz. Die Anklageschrift umfasst 364 Seiten. Bei Rupperswil waren es gerade einmal 28. «Es wäre eine Zumutung, wenn eine derart lange und komplexe Anklageschrift erst kurz vor Prozessbeginn verschickt wird», findet Simmler.
Die Staatsanwaltschaft hat ausserdem ein gewisses Interesse daran, die Anklageschrift an die Medien zu übergeben. «Sie hat dadurch das erste Wort», so Simmler. Die Anklageschrift sei aber auch eine Art Brandbeschleuniger. Das wollte man im Fall Rupperswil wohl vermeiden. So oder so: Das letzte Wort hat in der Affäre Vincenz das Gericht. Und dieses lasse sich vom Medienrummel nicht beeinflussen, zeigt sich Simmler überzeugt.