Beat Stocker (61) erscheint auch am Mittwoch am Stock vor dem Zürcher Volkshaus. Der zweite Hauptangeklagte im grössten Wirtschaftsprozess des Jahrzehnts musste heute aussagen. Anders als sein Ex-Kompagnon Pierin Vincenz (65) musste er die Fragen nicht stehend beantworten. Er durfte sitzen. Der Grund ist ein trauriger.
Stocker leidet unter Multipler Sklerose, kurz MS. Eine chronische Krankheit, die die Nerven angreift. «An Tagen wie diesen kann ich fast nicht mehr gehen», sagt Stocker am Prozess. Die Diagnose erhielt Stocker vor zehn Jahren. Blick verrät er: «In den letzten vier Jahren hat sich mein Gesundheitszustand verschlechtert.»
Sehstörungen bei MS häufig
Als Mann ist Stocker kein typischer MS-Patient. Zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen. Aber so oder so: «Es gibt nicht DEN typischen MS-Betroffenen», sagt Susanne Kägi (54), Co-Leiterin Beratung der Schweizerischen Multiple Sklerose Gesellschaft. «MS gilt als Krankheit der tausend Gesichter.»
Weil das Immunsystem dabei die Nerven angreift, ist MS komplett unvorhersehbar: Man kann über Nacht erblinden oder die Beine nicht mehr bewegen. Vor Gericht erzählt Stocker denn auch von Sehstörungen. Das sei auch der Grund gewesen, warum seine Frau ihn auf Geschäftsreisen begleitete – auf Firmenkosten. «Ich hatte eine Nervenstörung und konnte nur 1,5 Meter weit sehen», sagt Stocker am Prozess.
Bei einem MS-Schub wird sein Augenlicht so schlecht, dass er nicht mehr Autofahren kann und ständig stolpert, erzählt Stocker einem Blick-Reporter vor Ort. Solche Sehstörungen sind bei MS-Betroffenen häufig, bestätigt Susanne Kägi: «Das kann sich ganz unterschiedlich äussern, mit Seheinschränkungen, Nebelbildern oder Farbstörungen.»
«Ich nehme keine Medikamente»
Wenn ein MS-Schub nachlässt, verbessert sich auch der Zustand der Betroffenen: Sie können wieder sehen oder gehen. «Die Symptome unterliegen sogar Tagesschwankungen», sagt Kägi. «Abhängig von Fieber, Stress oder Übermüdung treten die Symptome stärker auf. Wenn sich das wieder legt, gehen auch die Symptome zurück.»
Die Krankheit hatte schon Auswirkungen auf Stockers Untersuchungshaft. Er sagte in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag», dass er in der U-Haft wegen MS zweimal hingefallen sei. Deshalb seien ihm dann die Handschellen vorne und nicht mehr hinten angelegt worden. «In der Haft wollte ich die Therapie fortsetzen, doch dazu hätte ich mit dem Zug ins Berner Inselspital fahren müssen, jeweils flankiert von zwei Polizisten und mit Handschellen gefesselt. Das wollte ich nicht.»
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Aktuell ist Stocker wegen seiner MS nicht mehr in Behandlung, wie er vor Gericht sagt: «Ich nehme keine Medikamente.» MS ist unheilbar. «Medikamente können den Verlauf höchstens verlangsamen oder abschwächen», erklärt Kägi. Dass Stocker ganz auf Medikamente verzichtet, ist keine Ausnahme, so die Expertin: «Bei manchen Betroffenen sind die Nebenwirkungen so stark, dass sie sich gegen eine Therapie entscheiden.»
Die gute Nachricht: MS-Betroffene haben keine verringerte Lebenserwartung. «Ich kenne 80-jährige MS-Patienten, denen würde man nicht ansehen, dass sie chronisch krank sind», erzählt Susanne Kägi. Doch dann gibt es auch 40-Jährige, die im Rollstuhl sitzen. Oder den 61-jährigen Beat Stocker, der am Stock geht.