In Zürich hat am Dienstag der Prozess gegen die beiden Hauptangeklagten Pierin Vincenz (65) und seinen früheren Berater Beat Stocker (61) begonnen. Sie müssen sich wegen gewerbsmässigem Betrug, Urkundenfälschung, unlauterem Wettbewerb und Veruntreuung vor Gericht verantworten. Es droht ihnen eine Strafe von 6 Jahren Gefängnis. Es gilt für alle Beteiligten die Unschuldsvermutung. Blick hat Pierin Vincenz genau auf die Finger geschaut.
Sein Auftritt:
Pierin Vincenz (65), früherer CEO von Raiffeisen, der drittgrössten Bank des Landes, hat sich nach den 106 Tagen in U-Haft fast drei Jahre lang nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt. Der joviale, bodenständige Banker, der den Kontakt zu den Medien früher so genossen hat. Punkt 7.59 Uhr betritt er das Zürcher Volkshaus, das coronabedingt als Ersatz für das Zürcher Bezirksgericht ausgesucht wurde.
Er geniesst diesen Auftritt. Zeigt sich von seiner menschlichen Seite. Braungebrannt, lächelnd, mit offenem Hemd, ohne Krawatte und ohne Maske stellte er sich den Medien. «Es geht mir soweit gut», spricht er in die Mikrofone. Dann verschwindet er im Volkshaus. Zwei Stunden darauf verlässt er dieses wieder – für eine kurze Kaffeepause in der nahen Kanzlei seines Anwaltes Lorenz Erni (71). Abermals sucht Vincenz danach das Spiel mit den Medien. Selbstbewusst und entspannt. Ein starker Auftritt.
Seine Taktik:
Pierin Vincenz und sein Anwalt Lorenz Erni (71) spielen von Anfang an auf Zeit. Sie stellen kurz nach Prozessbeginn den Antrag, diesen zu verschieben. Der Hintergrund: Der Fall Commtrain verjährt am 4. April. Wird der Prozess über diesen Stichtag hinaus verschoben, können Vincenz und Co. dafür nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden.
Ein Blick zurück: Am 4. April 2007 unterschrieb Beat Stocker (61), der damalige CEO von Aduno (heute Viseca), den Kaufvertrag für die Firma Commtrain Card Solutions, an der Stocker und Vincenz beteiligt waren. Die beiden erzielten damit einen Gewinn von 1,3 Millionen Franken. Zivilrechtlich ist der Fall bereits verjährt. Strafrechtlich allerdings gilt eine Verjährungsfrist von 15 Jahren. Richter Sebastian Aeppli (63) schmetterte den Antrag nach einem über vierstündigen Unterbruch ab. Die Taktik floppt.
Seine Aussagen:
Danach muss Pierin Vincenz dem Gericht zum ersten Mal Rede und Antwort stehen. «Wieviel AHV erhalten Sie monatlich?», fragt der Richter. «Etwas mehr als 2000 Franken, glaube ich», antwortet Vincenz. In der Hand hält er eine Flasche Cola. Verdient habe er nach dem Rücktritt als CEO der Raiffeisen 1,5 Millionen Franken im Jahr. Dem Mitangeklagten Beat Stocker (61) schulde er 6 Millionen. Insgesamt habe er 23 Millionen Schulden.
Der Hauptangeklagte verteidigt seine Bar- und Clubbesuche. «Diese waren geschäftsmässig begründet.» Er habe nie versucht, die Besuche zu verstecken. Oft habe er auch selber bezahlt. Bar oder mit seiner privaten Kreditkarte. Ob er in den Etablissements auch für anderes bezahlt habe, als für Getränke? «Das waren nur Getränke, aber Weinflaschen sind ja auch teuer», sagt er.
Seine Reisen seien nötig gewesen, um Beziehungen mit Bankern zu pflegen. Zudem betont er: «Ich habe 20 Jahre nicht unterschieden zwischen Ferien und Geschäft.» Ein Abendessen mit einer Tinder-Bekanntschaft im noblen Restaurant «Storchen» in Zürich erklärt er so: «Das Tinderdate war ein Bewerbungsgespräch.»
Zu den heimlichen Beteiligungen an vier Firmen gab Vincenz 45 Minuten lang Auskunft. Zuweilen konnte er sich nicht mehr an die Vorfälle erinnern. «Das war vor 15 Jahren, ich war unerfahren», sagt er. Viele Vorgänge habe er «mit seinem damaligen Präsidenten» bei Raiffeisen besprochen. Vincenz erklärt zudem: «Bei mir war immer ein bisschen das Problem, dass ich die Steuererklärung zwei, drei Jahre später ausgefüllt habe. Darum gab es eine Verwechslung beim Datum.» Zum Schluss hält er fest: «Ich fühle mich unschuldig.» Er habe nicht das Gefühl, etwas Kriminelles unternommen zu haben.
Die Kuriosität des Tages:
Pierin Vincenz kommt nach der vierstündigen Mittagspause zusammen mit seinem Anwalt Lorenz Erni pünktlich zurück zum Volkshaus. Dort steht er zusammen mit zwei Dutzend Journalisten vor verschlossenen Türen. Zehn Minuten lang. Bodyguards hat er keine dabei. Die Journalisten geben sich schweizerisch zurückhaltend. Kaum einer wagt es, den ehemaligen Raiffeisen-CEO anzusprechen. Erst nach 16 Uhr öffnen sich die Türen. Vincenz darf den Theatersaal betreten. Die Medien müssen noch einen Moment draussen warten. Später entschuldigt sich der Richter für das Warten vor verschlossenen Türen.
So geht es weiter:
Vier Tage hat das Bezirksgericht Zürich ursprünglich für den Vincenz-Prozess anberaumt – massiv zu wenig, wie sich schon am ersten Verhandlungstag zeigt. Bereits vor Prozessbeginn war klar, dass der Reservetag am 9. Februar ebenfalls gebraucht wird. Nun haben die Richter entschieden: Im März wird an vier weiteren Tagen verhandelt. Der Prozess dauert damit doppelt so lange wie ursprünglich geplant!
Vincenz und Co. müssen am 8., 9., 22. und 23. März erneut vor Gericht antraben. Am 9. und 23. März tagt das Gericht wiederum im Volkshaus. Am 8. März muss ein kleinerer Saal im Bezirksgericht herhalten, zusätzlich gibt es einen Übertragungssaal. Für den 22. ist der Tagungsort noch offen. Für Spannung ist also gesorgt.