«Ich habe nicht das Gefühl, ich hätte etwas Kriminelles unternommen», sagt Pierin Vincenz (65) vor dem Bezirksgericht in Zürich. Mit diesem Satz endet die Befragung des Hauptangeklagten und damit der erste Tag im Verfahren gegen den ehemaligen Raiffeisen-Boss und weitere Beschuldigte. Vincenz kam, sah und lief fast zu alter Bestform auf. Der Mann, der früher alle selbstbewusst in die Tasche steckte, davon überzeugen konnte, wie toll doch er und seine Genossenschaftsbank seien.
Ob er auch wirklich siegen wird, darüber richten allerdings andere, das entscheidet das dreiköpfige Gericht unter dem Vorsitz von Richter Sebastian Aeppli (63).
Kein Spiel auf Zeit
Vincenz beherrscht das Spiel mit den Medien immer noch. Mit einem strahlenden Lachen steuert er nach der ersten Unterbrechung am Vormittag auf die wartenden Journalisten, Fotografen und Kameraleute zu. Sorgt sich um das Wohlergehen der Fotografen, die im Rückwärtsgang versuchen, das beste Bild vom ehemaligen Raiffeisen-CEO zu knipsen: «Passt auf, dass ihr nicht stürzt», warnt er und bleibt kurz stehen, damit die Bilder von ihm und seinem Anwalt auch möglichst gut ausfallen.
Inszenierung ist alles: Ohne Krawatte und das Hemd einen Knopf zu weit offen, steigt der Ex-Banker in den Prozess. Seine Haut ist sonnengebräunt, er wirkt entspannt, scheint sich in den Bergen auf seine Auftritte vor Gericht vorbereitet zu haben.
Einen kleinen Dämpfer gibt es für Vincenz und die anderen Angeklagten, als Richter Aeppli kurz nach 16 Uhr sämtliche Anträge auf Verschiebung des Prozesses oder Rückweisung der Anklage abschmettert. Das Spiel auf Zeit der Verteidiger ist fürs Erste gescheitert.
2000 Franken AHV
Deshalb muss nun der ehemalige Vorzeigebanker an eines der beiden Rednerpulte stehen und die Fragen des Gerichts über sich ergehen lassen. Zuerst zu Einkommen und Vermögen. Vincenz ist nun AHV-Rentner, seine monatliche Rente liege bei «etwas mehr als 2000 Franken».
Bis 2018 hatte Vincenz mit verschiedenen VR-Mandaten an die 1,5 Millionen Franken pro Jahr verdient. Doch mit Beginn der Strafuntersuchung ist dieser Geldstrom versiegt. Vincenz ist nun geschieden, lebt mit einer neuen Partnerin zusammen.
Finanziell ist der ehemalige Raiffeisen-Boss nicht nur auf Rosen gebettet. Denn einem Vermögen von rund 25 Millionen Franken steht ein fast gleich hoher Schuldenberg gegenüber. Alleine seinem Geschäftspartner und Mitangeklagten Beat Stocker (61) schuldet Vincenz 6,5 Millionen Franken.
Der Fall Vincenz
Darlehen statt Gewinne
Im Verlauf der weiteren Befragung ist denn auch immer wieder von «Liquiditätsengpässen» die Rede. Der damals gut verdienende Banker scheint notorisch knapp bei Kasse gewesen zu sein.
Deshalb seien viele Zahlungen im Zusammenhang mit den Firmentransaktionen auch keine Gewinne gewesen, sondern private Darlehen von Stocker an Vincenz. So auch im Fall Investnet, als es unter anderem darum ging, Stocker durch das Darlehen von der Bezahlung von Negativzinsen zu entlasten.
Die Staatsanwaltschaft wirft Vincenz und Stocker unter anderem Betrug und ungetreue Geschäftsbesorgung vor. Sie sollen einen unrechtmässigen Gewinn von insgesamt 25 Millionen Franken eingestrichen haben.
Vincenz soll zudem gemäss Anklage über Geschäftsspesen Besuche in Stripclubs (200'000 Franken), private Reisen (250'000 Franken) und Anwaltskosten für private Beratungen (140'000 Franken) abgerechnet haben. Bei den Anwaltskosten wegen des Streits mit einer Tänzerin räumt der Befragte ein, dass diese «privat» waren und «irrtümlich» an Raiffeisen geschickt und von der Bank bezahlt wurden. Diese möchte Vincenz zurückerstatten, allerdings sei dies noch «hängig».
Rastlos im Dienst der Raiffeisen
Dagegen ist sich Vincenz bei den Spesen für Stripclubs keiner Schuld bewusst, diese seien «geschäftsmässig» begründet gewesen. Viele Spesen für Stripclubs waren mit dem Vermerk «Nachtessen» versehen. Das will Richter Aeppli nun genau wissen: «Ging es vor oder nach dem Essen in die Lokale?» Vincenz antwortet: «Nach dem Essen ging es mit einer kleineren Gruppe in die Lokale.» Dabei wurde zwar kein Champagner für Tänzerinnen spendiert, aber teure Flaschenweine konsumiert. «Wir waren eher die Weintrinker», räumt Vincenz ein.
Der Angeklagte zeichnet von sich das Bild des rastlosen Raiffeisen-Bosses, der Tag und Nacht im Dienste seiner Bank unterwegs war. Ein Tinderdate inklusive Nachtessen für 700 Franken wird flugs zum Vorstellungsgespräch umfunktioniert. Die Frau habe eine Anstellung gesucht und er habe «beim Essen ihre Fähigkeiten geprüft», so Vincenz.
Da kann es kaum überraschen, dass der Ex-Banker zu seinem Abschied zwei Geschäftspartner auf Kosten von Raiffeisen für fast 100'000 Franken zu einer Reise nach Dubai einlud, First-Class-Flug und Deluxe-Suite im Luxushotel Burj al Arab inklusive.
Zum Abschluss des ersten Verhandlungstages fragt Richter Aeppli nochmals nach:
«Sie fühlen sich unschuldig?» Und Vincenz beteuert selbstbewusst: «Jawohl.»