Menschen ohne Schweizer Pass trifft Covid deutlich härter
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Eine neue Studie belegt:Menschen ohne Schweizer Pass trifft Covid deutlich härter

Armut und Diskriminierung
Ausländer sterben häufiger an Corona als Schweizer

Eine neue Studie belegt: Menschen ohne Schweizer Pass trifft Covid im Schnitt deutlich härter. Grund dafür sind soziale und wirtschaftliche Benachteiligungen.
Publiziert: 06.02.2022 um 11:12 Uhr
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Aktualisiert: 07.02.2022 um 13:11 Uhr
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Ausländische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sterben im Schnitt deutlich häufiger an Covid als Menschen mit Schweizer Pass.
Foto: keystone-sda.ch
Fabian Eberhard

Als Covid Anfang 2020 noch eine mysteriöse Lungenkrankheit aus China war und in der Schweiz erste Menschen im Spital landeten, rückte das Land zusammen. Applaus für das Pflegepersonal, Balkongesänge gegen die Isolation. Alle folgten dem Gebot der Stunde: Solidarität.

Schon in der zweiten Welle änderte sich das. Es war Dezember 2020, täglich starben fast 100 Menschen – und plötzlich ging es um die Schuldfrage. Die SVP schwenkte um auf Sündenbock-Politik, schnell hatte sie die angeblich Verantwortlichen gefunden: Ausländerinnen und Ausländer.

«70 Prozent Migranten im Corona-Spitalbett», wütete SVP-Fraktionspräsident Thomas Aeschi auf Twitter. Gesundheitsminister Alain Berset sage dazu nichts. «Aber mit immer noch mehr Einschränkungen bringt er immer noch mehr Schweizerinnen und Schweizer um ihre Existenz!»

Belege für seine Aussagen hatte Aeschi nicht. Aus welchen Bevölkerungsgruppen Menschen vornehmlich in die Spitäler eingeliefert wurden, das blieb ein blinder Fleck in der Pandemie.

Auswertung von BFS-Daten bringen Antwort

Jetzt liefert eine Studie Antworten. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben im Auftrag des Mediendienstes Integration die Zunahme der Todesfälle in der Schweiz des Jahres 2020 untersucht. Gestützt auf Daten des Bundesamts für Statistik (BFS) können sie nun belegen: Menschen ohne Schweizer Pass starben in der Corona-Pandemie deutlich häufiger als Schweizerinnen und Schweizer.

Die Ergebnisse sind überdeutlich. Bei Schweizer Staatsbürgern in der Altersgruppe zwischen 65 und 74 Jahren lag der Anstieg der Todesfälle im Vergleich zum Jahr 2019 bei 2,2 Prozent, bei gleichaltrigen Menschen ohne Schweizer Pass hingegen bei 20,9 Prozent. Auch in anderen Altersgruppen war der Anstieg drastisch erhöht (siehe Grafik).

Mitautor Tino Plümecke, der in Zürich lebt und als Soziologe an der Universität Freiburg forscht, sagt: «Die viel stärkere Erhöhung der Todesfallzahlen von Menschen ohne Schweizer Pass hat uns überrascht und erschreckt.»

Datenlage lässt keine genauere Unterteilung zu

Da in der Schweiz exakte Daten über unterschiedliche Nationalitäten noch immer fehlen, konnten die Forscherinnen und Forscher nur zwischen Verstorbenen mit oder ohne Schweizer Pass unterscheiden. «Die Gruppe der Menschen ohne Schweizer Pass ist eine ungenaue Kategorie», gibt Plümecke zu bedenken. Sie umfasse Kriegsflüchtlinge ebenso wie hochqualifizierte Fachkräfte. Studienautorin Anne-Kathrin Will fordert deshalb mehr Daten über vulnerable Gruppen. «Es ist symptomatisch, dass solche Informationen fehlen», sagt sie.

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Die Gründe für die ungleiche Sterblichkeit haben die Forscher nicht untersucht. Fakt ist: Ausländerinnen und Ausländer sind in der Schweiz deutlich häufiger sozial benachteiligt. Darin sehen die Wissenschaftler denn auch den Grund für die hohen Todeszahlen: Beengte Wohnverhältnissen, Jobs ohne Homeoffice-Möglichkeit, Abhängigkeit vom öffentlichen Verkehr.

Darüber hinaus wäre laut Plümecke zu fragen, wie sich strukturelle Diskriminierungen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt in den Zahlen niederschlagen. «Dass Alltagsdiskriminierungen Auswirkungen auf die Gesundheit haben können, ist in vielen Studien belegt.»

Kommt hinzu: Sozial benachteiligte Menschen leiden überdurchschnittlich häufig an chronischen Krankheiten wie Diabetes oder an Übergewicht, Faktoren, die schwere Covid-Verläufe begünstigen.

Klassenvirus Corona

Matthias Egger, ehemaliger Taskforce-Chef und Präsident des Nationalen Forschungsrats des Schweizerischen Nationalfonds, hat den Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status und dem Corona-Risiko untersucht. Das Ergebnis: Arme Menschen sind dem Virus viel stärker ausgeliefert als reiche. Corona ist ein Klassenvirus.

Von den zehn Prozent der Ärmsten in der Schweiz mussten doppelt so viele auf der Intensivstation behandelt werden wie von den reichsten zehn Prozent. Ähnlich deutlich sind die Unterschiede bei Todesfällen und Infektionen.

Epidemiologe Egger: «Wir haben mit unserer Studie klar zeigen können, dass sozioökonomisch schlechter gestellte Menschen öfter und heftiger von Corona betroffen sind.» Deshalb überrasche es ihn auch nicht, dass Ausländerinnen und Ausländer häufiger an den Folgen der Krankheit sterben.

Der Fokus hätte auch auf Migranten und Migrantinnen gerichtet werden sollen

Seiner Meinung nach haben es die Behörden versäumt, diese Menschen rechtzeitig zu schützen. «Da hätten proaktiv grössere Anstrengungen unternommen werden müssen», meint Matthias Egger. Denn dass Migrantinnen und Migranten häufiger als andere schwer an Covid erkranken, sei schon zu Beginn der Pandemie absehbar gewesen.

«Neben älteren und vorerkrankten Menschen hätte der Fokus auch auf sozioökonomisch schlechter gestellte Personen ausgerichtet werden sollen», so der ehemalige Chef der Taskforce des Bundes.

Von Beginn an hätten Hausärzte und Polikliniken intensiver in die Pandemiebekämpfung miteinbezogen werden müssen. Denn sie seien es, die die sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen am besten erreichen.

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