ETH-Ökonom Jan-Egbert Sturm über die Folgen der Pandemie
«Die Krise hat unsere Wirtschaftsordnung nie infrage gestellt»

Jan-Egbert Sturm, Leiter der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich, zeigt sich im Interview mit SonntagsBlick überrascht, wie gut die Schweiz die vergangenen zwei Jahre gemeistert hat – und er erklärt, wieso andere Länder mehr Probleme hatten.
Publiziert: 06.02.2022 um 11:48 Uhr
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Jan-Egbert Sturm, Leiter der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich, zeigt sich überrascht, wie gut die Schweizer Wirtschaft die Pandemie gemeistert hat: «Wir haben die Krise deutlich besser überstanden, als es viele Wirtschaftsexperten für möglich gehalten haben», sagt der Ökonom im Interview mit SonntagsBlick.
Foto: Philippe Rossier
Interview: Thomas Schlittler

Der ETH-Ökonom ist überrascht, wie gut die Schweiz die vergangenen zwei Jahre überstanden hat – und erklärt, wieso andere Länder mehr Probleme hatten.

SonntagsBlick: Herr Sturm, seit zwei Jahren herrscht Ausnahmezustand. Wo steht die Schweizer Wirtschaft im Vergleich zum Februar 2020?
Jan-Egbert Sturm: Wir haben die Krise deutlich besser überstanden, als es viele Wirtschaftsexperten für möglich gehalten haben. Es gab zwar schmerzhafte Einschnitte, die ganz grossen Umwälzungen sind aber ausgeblieben. Im Vergleich zur Ölkrise der 1970er-Jahre oder zur Finanzkrise waren die volkswirtschaftlichen Auswirkungen von Covid erstaunlich gering. Die Krise hat unsere Wirtschaftsordnung nie infrage gestellt.

Andere Länder haben mehr gelitten. Wieso ist die Schweiz so gut durch die Krise gekommen?
Wir haben stark von unserer Wirtschaftsstruktur profitiert. Im Dienstleistungsbereich hat der Finanzsektor einen gewichtigen Anteil. Viele Tätigkeiten konnten relativ einfach ins Homeoffice verlagert werden. Zudem haben sich wichtige Industriebranchen als widerstandsfähig und pandemieresistent erwiesen, allen voran der Pharmabereich.

Welche Rolle spielten die Massnahmen des Bundes?
Im Gegensatz zu den Regierungen anderer Länder hat der Bundesrat nie die gesamte Wirtschaft lahmgelegt. Auf dem Bau und in der Industrie blieb die Produktion am Laufen. Das hat geholfen, die volkswirtschaftlichen Schäden in Grenzen zu halten. Sehr effektiv waren zudem die staatlichen Unterstützungsmassnahmen, insbesondere die Kurzarbeitsentschädigung und der Corona-Erwerbsersatz. Dadurch konnten die bestehenden Strukturen grösstenteils aufrechterhalten werden.

War das in anderen Ländern nicht der Fall?
Nicht überall und nicht in diesem Ausmass. Die USA zum Beispiel, die das Instrument der Kurzarbeit nicht kennen, hatten deutlich mehr Mühe, wieder alles hochzufahren. Dort sind viele Arbeitnehmer, die wegen der Krise entlassen wurden, weggezogen oder haben sich beruflich umorientiert. Das hatte zur Folge, dass auch in der Logistik sehr viele Arbeitskräfte fehlten – und das wiederum verschärfte die Lieferkettenprobleme.

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Probleme bei der Rekrutierung gibt es aber auch in der Schweiz. Hotellerie und Gastronomie, die unter den Covid-Massnahmen besonders zu leiden hatten, klagen über Personalmangel. Wieso das?
In der Schweiz hat die Pandemie in diesen Bereichen sicher am meisten Spuren hinterlassen. Einige Betriebe konnten es sich trotz staatlicher Unterstützung nicht leisten, ihr Personal zu behalten. Und jetzt, wo man wieder Leute braucht, stehen diese nicht gleich wieder auf der Matte. Auch hier ist ein Teil wahrscheinlich in andere Branchen und Regionen abgewandert. Das dürfte sich aber wieder einpendeln. Das Gastgewerbe wird sich erholen.

Das klingt alles sehr positiv und optimistisch. Einigen Beizern, Hoteliers, Fitnessstudio-Betreibern und Veranstaltern dürfte aber fast der Kragen platzen, wenn sie das lesen. Viele mussten in den vergangenen zwei Jahren sämtliche Ersparnisse aufbrauchen oder sind gar pleitegegangen.
Da haben Sie natürlich recht. Die aggregierten Daten für die gesamte Volkswirtschaft sind aus der Sicht des Einzelnen mit Vorsicht zu geniessen. Eine Durchschnittsbetrachtung heisst nicht, dass es allen gut geht. Nicht nur zwischen den verschiedenen Branchen gibt es riesige Unterschiede, sondern auch zwischen einzelnen Betrieben. In den Berggebieten haben viele Hotels zum Beispiel gute Monate hinter sich. In Städten wie Zürich oder Genf ist die Hotellerie dagegen immer noch in der Krise.

Wer wird über die Pandemie hinaus Probleme haben?
Die grössten Unsicherheiten gibt es in der Luftfahrt und beim Städtetourismus. Die Firmen haben Geschäftsreisen während der Pandemie fast komplett gestrichen, scheinbar ohne grosse Konsequenzen. Ich gehe deshalb davon aus, dass es in diesem Bereich lange dauert, bis das Vorkrisenniveau wieder erreicht ist. Die veränderte Nachfrage dürfte auch dort zu Strukturanpassungen führen – und so etwas ist für die Betroffenen natürlich immer brutal.

Die Arbeitslosenquote liegt aktuell bei 2,6 Prozent, das entspricht in etwa dem Niveau von Ende 2019. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen hat sich jedoch mehr als verdoppelt, von 14'000 auf 30'000 Personen. Weshalb?
Es ist typisch, dass die Langzeitarbeitslosigkeit im Verlauf einer Rezession zunimmt. Zudem wurde die maximale Bezugsdauer von Taggeldern verlängert, was dazu führt, dass weniger Personen als üblich ausgesteuert wurden und aus der Arbeitslosenstatistik verschwunden sind. Ausserdem suchen die Arbeitgeber vermehrt nach Arbeitskräften mit anderen Qualifikationen. Die Verlagerung zum Homeoffice hat zum Beispiel die Nachfrage nach IT-Spezialisten weiter erhöht. Aber es gibt ja nicht plötzlich mehr solcher Spezialisten. Dies ist eine Herausforderung, der sich die Wirtschaft schon vor Corona stellte und die auch in Zukunft Anstrengungen erfordern wird.

In der EU sorgen steigende Preise für Unruhe. Im Dezember betrug die Inflationsrate mehr als fünf Prozent. Wie beurteilen Sie das?
Die starke Teuerung in Europa sowie den USA ist vor allem eine Folge der weltweiten Lieferengpässe und der Entwicklung der Energiepreise. Ich gehe deshalb davon aus, dass es sich um ein grösstenteils vorübergehendes Phänomen handelt. Sobald das Angebot die gestiegene Nachfrage wieder decken kann, dürfte auch die Inflationsrate zurückgehen. Leicht steigende Preise sind aus ökonomischer Sicht aber durchaus wünschenswert. Auf Dauer ist es nicht gut, wenn wir gar keine oder gar eine negative Teuerung haben wie in den vergangenen Jahren.

In der Schweiz lag die Teuerungsrate auch in den vergangenen Monaten nie über 1,5 Prozent. Wieso sind wir auch diesbezüglich ein Sonderfall?
Ein Grund ist der starke Franken, der die Importe vergünstigt. Eine wichtige Rolle spielen aber auch die Energiepreise. Höhere Rohöl- und Gaspreise schlagen in der Schweiz weniger ins Gewicht, weil unsere Wirtschaft nicht sehr energieintensiv ist. Im Vergleich zur deutschen Schwerindustrie fallen die Energiekosten von Schweizer Banken, Versicherungen oder auch Pharmakonzernen deutlich weniger ins Gewicht.

Finanzminister Ueli Maurer warnte während der Krise immer wieder davor, dass die Kosten, die durch Corona-Hilfsmassnahmen verursacht werden, noch viele Generationen belasten werden. Wie sehen Sie das?
Die Staatsverschuldung der Schweiz ist im internationalen Vergleich weiterhin sehr gering. Wir werden unsere Schulden problemlos zurückzahlen können. Bei anderen Ländern bin ich mir jedoch nicht so sicher.

Im Sommer 2020 haben Sie, um die Kosten der Pandemie zu finanzieren, eine Krisengewinnsteuer ins Spiel gebracht. Sie machten sich damit nicht nur Freunde. Wie beurteilen Sie die Idee heute?
Mir war es ein Anliegen, dass man in aussergewöhnlichen Situationen auch über den Tellerrand hinausschaut und über aussergewöhnliche Massnahmen diskutiert. Die Idee war als Denkanstoss gedacht. Im Nachhinein lässt sich aber sicher sagen, dass die Schweiz eine solche zusätzliche Einnahmequelle nicht brauchen wird – zum Glück.

Europäischer Top-Ökonom

Jan-Egbert Sturm (53) leitet seit 2005 die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich. Das Wort des gebürtigen Holländers hat Gewicht: 2021 erreichte er Rang drei im «NZZ»-Ökonomen-Ranking, zudem sass Sturm in der Schweizer Corona-Taskforce. Er ist verheiratet, Vater zweier Kinder und lebt mit seiner Familie am Bodensee.

Jan-Egbert Sturm (53) leitet seit 2005 die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich. Das Wort des gebürtigen Holländers hat Gewicht: 2021 erreichte er Rang drei im «NZZ»-Ökonomen-Ranking, zudem sass Sturm in der Schweizer Corona-Taskforce. Er ist verheiratet, Vater zweier Kinder und lebt mit seiner Familie am Bodensee.

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