Die Pandemie dauert länger und länger. Die neue Omikron-Variante sorgt zusätzlich für Verunsicherung. Ein Ende des Albtraums ist nicht absehbar.
Doch auch in dieser Ausnahmesituation bestätigt sich eine alte Regel: Je unsicherer die Zeiten, desto beliebter der Schweizer Franken. In den vergangenen Wochen hat die Nachfrage wieder deutlich zugenommen. Seit dieser Woche kostet der Euro nur noch 1.04 Franken. Es ist der tiefste Wechselkurs seit 2015. Still und heimlich steuert der Franken in Richtung Euro-Parität – und das trotz Strafzinsen der Schweizerischen Nationalbank (SNB).
Sicherer Hafen
Woher kommt dieses reflexartige Verlangen nach unserer Landeswährung?
Ein Blick in die Vergangenheit liefert die Erklärung: Der Franken ist seinem Ruf als «sicherer Hafen» stets gerecht geworden. Er hat sich in den vergangenen 50 Jahren gegenüber allen Leitwährungen der Welt deutlich aufgewertet und war damit für Anleger aus dem Ausland ein lohnendes Investment.
Das Britische Pfund zum Beispiel kostete 1970 mehr als zehn Franken. Heute sind es rund 1.20 Franken. Ein US-Dollar – lange ebenfalls als «sicherer Hafen» in Krisenzeiten bekannt – kostete vor 50 Jahren vier Franken. Heute legt man dafür noch knapp 90 Rappen auf den Tisch. Der Euro, den es als Buchgeld seit 1999 gibt, hat seit seiner Einführung gegenüber dem Franken rund ein Drittel an Wert eingebüsst.
Auch im Vergleich zu den Währungen anderer kleiner Länder, die über eine robuste Wirtschaft verfügen, hat sich der Franken deutlich aufgewertet. Nicht einmal die Kronen Norwegens, Schwedens und Dänemarks entwickelten sich annähernd so stark wie der Franken.
Spiegel der politischen Stabilität
Laut Jan-Egbert Sturm, Leiter der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF), ist der Ursprung für den Schweizer Franken als starke Währung der Erste Weltkrieg: «Seither ist ein starker und stetiger Aufwertungstrend gegenüber Währungen wie dem Pfund und dem Dollar zu beobachten, der in hohem Masse die Inflationsunterschiede und die wirtschaftliche und politische Stabilität des Landes widerspiegelt.»
Ein wichtiger Faktor sei zudem der Finanzplatz, glaubt Sturm: «Die skandinavischen Länder zum Beispiel verfügen nicht über Finanzzentren von ähnlicher internationaler Bedeutung wie die Schweiz.» Zum einen fehle diesen Ländern die lange Geschichte, die es brauche, um diesen guten Ruf aufzubauen. Zum anderen scheuten sie das Risiko, ihre Volkswirtschaften grossen Wechselkursschwankungen auszusetzen. «Hinzu kommt, dass die Sparquote in der Schweiz hoch ist und diese Ersparnisse auch aus regulatorischen Gründen zum beträchtlichen Teil in der Schweiz angelegt werden müssen», so Sturm weiter.
Für ausländische Sparer haben sich Geldanlagen in Schweizer Franken in der Vergangenheit mehr als bewährt. So hätte ein Brite, der 1970 eine Summe von 100'000 Pfund in Schweizer Franken investierte, aufgrund der Wechselkursentwicklung heute umgerechnet eine Million Pfund auf dem Konto – Zins und Zinseszins nicht miteingerechnet.
Superreiche bunkern noch immer Schweizer Franken
Der Franken hilft Ausländern also dabei, den hohen Inflationsraten in der Heimat ein Schnippchen zu schlagen.
Insbesondere institutionelle Anleger und Superreiche sind sich dieser historischen Wechselkursverhältnisse bewusst – und bunkern ihr Geld deshalb selbst dann in der Schweiz, wenn sie dafür Negativzinsen zahlen müssen.
Die jüngsten Entwicklungen scheinen den Franken-Fans einmal mehr recht zu geben. Die Inflationsraten nehmen weltweit gerade wieder stark zu. Das bedeutet, die Preise für Güter des täglichen Bedarfs steigen, die Währungen verlieren an Kaufkraft und damit auch an Wert.
Extrembeispiel ist gegenwärtig die Türkei: Dort stieg die Inflationsrate im November angesichts der drastischen Abwertung der Landeswährung Lira auf über 20 Prozent. Waren und Dienstleistungen verteuerten sich gegenüber dem Vorjahresmonat um 21,3 Prozent.
In den USA wurde im Oktober eine Teuerung von 6,2 Prozent vermeldet. Das ist der höchste Wert seit 1990. Und im Euroraum stand die Inflation im November ebenfalls wieder höher, bei 4,9 Prozent.
Verglichen dazu sind die Preise in der Schweiz sehr stabil: Im November betrug die Inflationsrate gemäss Bundesamt für Statistik 1,5 Prozent.
Wirtschaft bleibt gelassen
Die ungleiche Entwicklung der Teuerung ist auch der wichtigste Grund dafür, dass die Schweizer Wirtschaftsverbände und Exportfirmen trotz der aktuellen Wechselkursentwicklung erstaunlich ruhig bleiben. Rudolf Minsch, Chefökonom von Economiesuisse, sagt auf Anfrage von SonntagsBlick: «Die Situation ist nicht mehr mit 2015 vergleichbar.»
Damals, als die Nationalbank den Mindestkurs von 1.20 Franken pro Euro aufhob, sei der Franken über Nacht stärker geworden und massiv überbewertet gewesen.
Nun aber, sechs Jahre später, sei ein Kurs von 1.20 Franken real – das heisst inflationsbereinigt – nicht mehr dasselbe. Minsch: «Seit 2015 sind die Preise im Euroraum rund 7,6 Prozent stärker gestiegen als in der Schweiz. Damit wurden die Produkte in Ländern wie Deutschland in Lokalwährung teurer.» Mit anderen Worten: Die Schweiz beziehungsweise Schweizer Produkte sind preislich heute deutlich konkurrenzfähiger als noch 2015. Minsch beurteilt die jüngste Frankenaufwertung deshalb als «nicht dramatisch».
Swissmem allerdings teilt diese Einschätzung nur bedingt. Dem Verband der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie bereitet die schleichende Aufwertung des Frankens durchaus Sorgen. Kommunikationschef Ivo Zimmermann: «Mit einem Wechselkurs von 1.09, wie er noch im September galt, konnten die meisten Unternehmen der MEM-Branche einigermassen leben. Mittlerweile nimmt die Überbewertung allerdings wieder ein bedrohliches Ausmass an.»
Dass ein Aufschrei bisher ausgeblieben ist, erklärt Zimmermann damit, dass sehr viele Firmen ihre Währungsrisiken über ein adäquates Hedging abgesichert hätten. «Das gilt vor allem für Grossfirmen, teilweise aber auch für KMU.»
Volle Auftragsbücher
Simon Wey, Chefökonom des Schweizerischen Arbeitgeberverbands, führt zudem die vollen Auftragsbücher ins Feld. «Mit dem weltweiten wirtschaftlichen Aufschwung hat sich die Nachfrage in exportorientierten Firmen substanziell erhöht.» Wegen der hohen Nachfrage seien oft auch die Ausweichmöglichkeiten zu anderen Konkurrenten schwierig, da deren Auftragsbücher ebenfalls voll seien. «So sind die Kunden bereit, Preissteigerungen infolge von Währungsschwankungen oder von Lieferengpässen zu akzeptieren.»
Der Wechselkurs hat für die Schweizer Wirtschaft aktuell also nicht oberste Priorität. Das dürfte sich spätestens dann ändern, wenn die Pandemie wieder ein wenig in den Hintergrund rückt.
Gut möglich, dass sich der Franken bis dahin weiter aufwertet.