«Meine Kinder trauen sich nicht mehr in den Garten»
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572 Rassismus-Fälle im 2020:«Meine Kinder trauen sich nicht mehr in den Garten»

572 Rassismus-Fälle in der Schweiz im Jahr 2020
«Meine Kinder trauen sich nicht mehr in den Garten»

572 Diskriminierungsfälle meldeten Beratungsstellen im Jahr 2020. Das zeigt ein noch unveröffentlichter Bericht des Bundes, der dem SonntagsBlick vorliegt. Betroffen ist auch Mohammed O.* und seine Familie.
Publiziert: 17.04.2021 um 20:26 Uhr
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Aktualisiert: 05.05.2021 um 10:55 Uhr
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572 Rassismus-Fälle registrierten Schweizer Beratungsstellen im 2020.
Foto: Regina Vetter
Fabian Eberhard

Mohammed O.* hat schon so vieles versucht, aber die Schikanen nehmen kein Ende. Geflüchtet vor den Kriegswirren in Syrien, erhielten er und seine Familie in der Schweiz Asyl. In einer Wohnung im Kanton Solothurn wollte O. mit seiner Frau und den gemeinsamen fünf Kindern ein neues Leben beginnen.

Doch eine Nachbarin gönnt den Geflüchteten die neue Ruhe nicht. Die Frau diskriminiert die Familie seit dem Einzug, beleidigt sie, macht sich lustig über deren Herkunft und den muslimischen Glauben. Immer wieder schreit die Nachbarin die Kinder im Treppenhaus an, mehrmals schon hat sie wegen angeblichen Lärms unbegründet die Polizei gerufen. «Die Frau belästigt uns», sagt O. Seine jüngeren Kinder seien verängstigt: «Sie trauen sich nicht einmal mehr in den Garten.»

Anwohnerinnen und Anwohner bestätigen die Vorfälle. Zusammen mit der Verwaltung schickten sie eine Beschwerde an die Frau. Doch das machte alles nur noch schlimmer. Letzte Woche hat O. die Polizei eingeschaltet.

Hohe Dunkelziffer

Der Fall der syrischen Flüchtlingsfamilie ist einer von vielen, die Beratungsstellen 2020 beschäftigt haben. Ein noch unveröffentlichter Bericht der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) und des Vereins humanrights.ch zeigt: Im vergangenen Jahr mussten die 21 Schweizer Rassismusstellen 572 Diskriminierungsopfer beraten. Aufgrund einer neuen Zählweise ist die Gesamtzahl im jährlich erscheinenden Rassismusbericht nicht mit den Vorjahren vergleichbar. Zudem wenden sich bei weitem nicht alle Opfer an eine Beratungsstelle – die Dunkelziffer ist hoch.

Auffallend ist jedoch, dass der Anteil der Übergriffe im privaten Bereich gestiegen ist. 72 Fälle passierten in der Nachbarschaft oder im Quartier (siehe Grafik). Nur am Arbeitsplatz wurde häufiger diskriminiert. Die Verfasser des Reports führen das auf die Corona-Einschränkungen zurück.

Corona verstärkt Benachteiligungen

Kommt hinzu: Die Pandemie führt laut dem Bericht vermehrt zu Benachteiligungen von Menschen mit Migrationshintergrund, etwa in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Arbeit. Unter dem Deckmantel von Corona würden zudem Menschen aufgrund ihrer Herkunft unter Generalverdacht gestellt. Dann zum Beispiel, wenn die Schuld an der Pandemie Leuten asiatischer Herkunft gegeben werde.

Sorgen macht den Verfassern auch, dass Corona Verschwörungstheorien und Holocaust-Relativierungen befeuert. Martine Brunschwig Graf, Präsidentin der Rassismuskommission, sagt: «Fake News und Verschwörungstheorien im Internet und in sozialen Netzwerken schaffen ein Klima, das rassistischen Hassreden, Antisemitismus und Diskriminierung Vorschub leistet.»

Das beobachtet auch Gina Vega vom Verein humanrights.ch: «Durch die pandemiebedingte Verlagerung des Lebens in die Onlinewelt häuften sich Meldungen über Rassismus und Hass im Netz.»

Dunkle Hautfarbe als Handicap

Am häufigsten von Rassismus betroffen – in 206 Fällen – waren 2020 wie schon in den Jahren zuvor Schwarze. 100 Mal richteten sich die Übergriffe gegen Muslime und Menschen aus dem arabischen Raum. Immerhin: Meist blieb es bei Drohungen, Beschimpfungen oder schwerer Benachteiligung. In 49 Fällen war aber auch Gewalt im Spiel.

Laut Gina Vega wird Rassismus in der Schweiz noch immer zu wenig ernst genommen. Sie wünscht sich vom Staat, der Politik oder den Unternehmen mehr Entschlossenheit im Kampf gegen Diskriminierung. Und konkrete Massnahmen. «Es wird immer noch den Betroffenen überlassen, über Rassismus zu reden und sich dagegen zu wehren», sagt sie. Die ganze Gesellschaft müsse endlich mehr Verantwortung übernehmen.

«Schweigen ist keine Lösung»

Betroffenen rät Vega, geschützte Räume zu suchen, wo sie mit Vertrauenspersonen über ihre Erfahrungen sprechen können. «Schweigen und Verdrängen sind keine nachhaltige Lösung.»

Es sei zudem wichtig, dass Rassismusopfer ihre Rechte kennen. Exemplarisch zeigt das ein im Bericht beschriebener Fall: Wegen ihres Kopftuchs wurde eine Frau im öffentlichen Verkehr wiederholt von einem Mann beschimpft. Als sie zur Polizei ging, rieten ihr die Beamten von einer Anzeige ab. Solange der Täter unbekannt sei und keine strafbare Handlung wie Nötigung, Körperverletzung oder Drohung vorliege, würden rechtliche Schritte wenig Sinn machen.

Daraufhin wandte sich die Betroffene an eine Beratungsstelle. Diese unterstützte die Frau bei einer Anzeige wegen Rassendiskriminierung. Die Folge: Die Staatsanwaltschaft eröffnete ein Verfahren, identifizierte den Täter und verurteilte ihn.

*Name der Redaktion bekannt

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