Auf einen Blick
- Wie weiter mit der EU? Schweiz steht vor Schicksalsfrage
- Aussenminister Cassis schwieg monatelang, Gegner dominierten die Debatte
- Der Bundesrat muss jetzt entscheidende Fragen beantworten, auch fürs Volk
Monatelang schwieg er, monatelang hielt er sich zurück. Während die Gegner des neuen EU-Deals das Land aufmischten, blieb der Bundesrat stumm. Jetzt steht die Schweiz vor der europäischen Schicksalsfrage – und der Bundesrat muss nach Endlos-Verhandlungen endlich aus der Deckung kommen!
Am Freitag wird er den Abschluss der Verhandlungen mit Brüssel verkünden. Die entscheidende Frage: Was hat die Schweiz bei der Übernahme von EU-Recht, bei der Streitbeilegung und bei der Zuwanderung herausgeholt?
Der zentrale Kopf: Aussenminister Ignazio Cassis (63). Ihm ist es wesentlich zu verdanken, dass es überhaupt wieder Gespräche mit Brüssel gibt. Nach dem Scheitern des Rahmenabkommens setzte sich der FDP-Bundesrat für einen Neustart ein. Sogar das Verhandlungsmandat wurde daraufhin öffentlich gemacht.
Es herrschte «Low-Level-Kommunikation»
Doch dann war Sendepause. Vom Bundesrat? Kaum ein Mucks. Hier und da ein gepflegtes Bekenntnis von Bundespräsidentin Viola Amherd (62) oder Justizminister Beat Jans (60) – mehr nicht. Besonders auffällig: die Stille von Cassis. Er schwieg. Und schwieg.
Der Bundesrat wollte unbedingt seine Verhandlungsposition schützen. Die Devise: Lieber nichts sagen, bis es etwas Handfestes gibt. «Low-Level-Kommunikation» nannte man diese Strategie laut «NZZ». Also schwieg Cassis. Und schwieg.
Der Preis der Zurückhaltung: Der Bundesrat verlor ohne Not die Deutungshoheit über den EU-Deal. Die Gegner gaben Vollgas, allen voran das illustre Unternehmer-Netzwerk «Kompass Europa». Mit einer Volksinitiative blies es zum Frontalangriff, Seite an Seite mit prominenten Unterstützern.
Parallel zündete Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard (56) ein Feuerwerk der Kritik. Und auch auf der Gegenseite blieb man nicht leise und diskret: Der zuständige EU-Vize Maros Sefcovic (58) gab der Schweiz öffentlich den Tarif durch. Bundesrätliche Konter? Fehlanzeige. Die paar verbliebenen Europafreunde in SP, FDP und Mitte konnten da wenig ausrichten. Die Parteispitzen hielten sich vornehm zurück.
Sagen, was das Land gewinnt und verliert
Noch bevor das Verhandlungsergebnis überhaupt auf dem Tisch lag, wurde das Abkommen zerredet und zerpflückt. Der Bundesrat hielt stur an seiner Nicht-Kommunikation fest. Ein groteskes Verhalten in einer Zeit des Dauersendens, in der jede Lücke gnadenlos gefüllt wird.
Nun schlägt die Stunde der Wahrheit: Schluss mit «Low Level»! Hat der Bundesrat mehr Lust zu erklären, warum es aus seiner Sicht ein Abkommen braucht? Wollen Cassis und Co. die Debatte drehen?
Wenn ja, braucht der Bundesrat eine Strategie, wie er Parlament und Volk vom EU-Deal überzeugen will. Vor allem aber muss er ehrlich aufzeigen, welche Verpflichtungen die Schweiz eingeht. Was das Land gewinnt – und was es verliert.
Oder haben im Bundesrat längst die Skeptiker das Sagen? Glaubt die Mehrheit insgeheim gar nicht mehr an den Erfolg eines neuen Abkommens? Auch dann wäre Ehrlichkeit gefragt. Sonst werden die Endlos-Konsultationen nach den Endlos-Verhandlungen zur Alibiübung.