Wer gibt in der Schweiz den Ton an? 2024 ist es «Pym Il Sung». So wird Pierre-Yves Maillard (55) manchmal boshaft genannt. Pym, das sind die Anfangsbuchstaben seines Vor- und Nachnamens. Das Wortspiel mit der nordkoreanischen Herrscherfamilie lässt durchblicken, wie dominant Maillard ist, nicht nur im linken Lager.
Am Waadtländer SP-Ständerat und mächtigen Gewerkschaftsboss führt dieses Jahr kein Weg vorbei. In der gerade neu belebten EU-Politik ist er faktisch eine Vetomacht, und schon in den kommenden Wochen wird der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) omnipräsent sein. Am 3. März stimmen die Schweizerinnen und Schweizer über eine 13. AHV-Rente ab. Und Maillard wird unablässig für ein Ja weibeln.
Mächtiger aus der Arbeiterklasse
Wobei weibeln das falsche Wort ist. Maillard kämpft immer mit harten Bandagen. Halben Einsatz kennt er nicht. Nach dem Warum gefragt, sagt er zuerst: «Es ist eine Ehre, Parlamentarier und SGB-Präsident zu sein.» Dann: «Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, hatte nicht die besten Chancen. Aber ich habe viel Vertrauen von der Bevölkerung bekommen, ich will ihr nun gut dienen.» Und zuletzt fügt er an: «Ausserdem ist mir sonst langweilig.»
Maillard ist in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, sein Vater arbeitete als Garagist und Hauswart, seine Mutter war Fabrikarbeiterin. Das Prädikat Arbeiterklasse trägt der Sohn heute mit sichtbarem Stolz. Er lebt mit Frau und zwei Kindern in der Lausanner Arbeitervorstadt Renens, wo SP, Grüne und Partei der Arbeit den Ton angeben. Er steht auf die Songs vom «Boss» Bruce Springsteen. Man findet ihn mindestens einmal wöchentlich bei einem Gewerkschaftstreffen, am Wochenende auf dem Fussballplatz.
Das verbirgt gut, dass Maillard mittlerweile einer der mächtigen Männer des Landes ist. «Pym Il Sung» ist gefürchtet als «Stahlhelm-Sozialist» und geschätzt als Dealmaker. Er hat das Geschäft von der Pike auf gelernt, war Gemeinde-, Kantons-, National-, Regierungs- und ist jetzt Ständerat. Nur das Bundesratsamt blieb ihm verwehrt. Als Gewerkschaftsboss ist er aber jederzeit fähig, den Bundesrat mit Referenden und Initiativen vor sich herzutreiben. Vielleicht der bessere Deal.
Er kennt nur ein Thema
Im März kämpft Maillard für mehr Rente. Im Juni folgt bereits der nächste Abstimmungskampf – für mehr Prämienverbilligungen. An die Urne kommt die SP-Initiative, die fordert, dass niemand mehr als zehn Prozent des Einkommens für die Krankenkasse berappen soll. Spätestens im September wird Maillard schliesslich das Referendum gegen die Reform der Pensionskassen anführen.
«In den nächsten sechs Monaten hat die Bevölkerung die Chance, ihre beiden Hauptsorgen – die Prämienlast und die Altersvorsorge – selbst zu lösen», redet er seine Rolle im Gespräch mit Blick klein. Er hoffe, «die Bevölkerung nimmt ihre Macht wahr, um für ihre eigenen Anliegen zu kämpfen». Denn von Bundesrat und Parlament könne man nichts erwarten im Kampf gegen den «brutalsten Kaufkraftverlust seit Jahrzehnten».
Das, was AHV, Prämien, Pensionskasse und auch die Europa-Politik im Kopf von Maillard verbindet, ist sein eigentliches Thema: Kaufkraft. «Kaufkraft heisst Freiheit», sagt er, «heisst Zukunft».
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Seine Zahlen kennt er
Die SP hat das Thema erst im Wahlkampf 2023 wirklich entdeckt, Maillard forderte schon 2018 im Blick: «Wir müssen Lösungen für den Kaufkraftverlust finden.» Das zeigt, wie ausgeprägt seine Spürnase für kommende Themen ist. Und wie gut seine Fähigkeit, den Kern eines Problems freizulegen oder zumindest einen solchen Kern zu behaupten. Was in der Politik manchmal das Gleiche ist.
«Die Abstimmung im März ist entscheidend», sagt Maillard. Gewinnt man die 13. AHV-Rente, helfe das, um bei Prämien und anderem bessere Kompromisse zu finden. Dafür scheut er auch populistische Parolen nicht. «Im Jahr erhält ein durchschnittlicher AHV-Rentner so viel wie ein Bundesrat in zwei Wochen», sagt er. «Das sollte unseren Bundesräten ein wenig bewusst machen, wie schwierig es ist, mit einer AHV-Rente leben zu können.»
Wer ihn fragt, wer AHV, Prämien und alles bezahlen soll, erntet ein Feuerwerk an Argumenten und Zahlen:
- Die AHV mache in den kommenden Jahren zwischen drei und vier Milliarden Gewinn, die 13. Rente sei also finanziert.
- Ein Bundesrat, der 200 Milliarden für die Rettung einer Privatbank riskiert hat, solle nicht Angst um die Finanzen der AHV schüren.
- Solange es im Bundesbudget Platz für fünf Milliarden mehr Armeeausgaben gibt, seien auch einige Hundert Millionen mehr für die AHV möglich.
«Blockade? Das sehe ich nicht»
Für seine Kämpfe scheut Maillard keine Arena, auch nicht das Albisgüetli, wo die Zürcher SVP Mitte Januar ihre traditionelle Tagung abhält. Für Linke ein hartes Pflaster. Doch der Waadtländer Gewerkschaftsboss wird seine Chance als Gegenredner von Christoph Blocher (83) nutzen.
Er wird gegen den Kaufkraftverlust wettern und so ein paar weitere Stimmen für die 13. AHV-Rente holen. Er wird vor einem schlechten Deal mit Brüssel warnen. Weil er weiss, dass nur sein Ja den bilateralen Weg retten kann und er den Preis dafür möglichst hochtreiben will. Was ihm den Vorwurf einträgt, er blockiere eine Lösung. «Blockade? Das sehe ich nicht», erwidert er abgebrüht. «Wir haben die Freiheit, unsere Position zu erklären.»
Und die ist: Kein Jota nachgeben beim Lohnschutz, keines beim Service public. Die Gewerkschaften hätten, so Maillard, als Einzige konkrete Vorschläge für beides gemacht. Anders als Arbeitgeber, Bundesrat, bürgerliche Parteien, fügt er an und kommt wieder auf seine Herkunft zu sprechen und warum er sie so pflegt. «Wenn man nur noch in Bundesbern unterwegs ist, dann läuft man Gefahr, schlechte Kompromisse zu schliessen und ist zufrieden, wenn man noch ein Wort in einem Gesetz ändern kann. Man vergisst die Realität draussen im Land.» 2024 wird er alles dafür tun, dass das nicht passiert.