Beziehungsstatus: Es ist kompliziert. Seit fast zehn Jahren diskutiert die Schweiz mit der Europäischen Union (EU). Darüber, wie man zusammen arbeiten und handeln will. Eine Hochzeit – also einen Beitritt – will die Schweiz nicht. Für eine Trennung sind die wirtschaftlichen Beziehungen zu eng verwoben.
Also eine Freundschaft+: Bilaterale Verträge. Doch auch dort müssen Fragen zum Lohnschutz oder der Streitbeilegung geklärt werden. Am Freitag hat der Bundesrat um Aussenminister Ignazio Cassis (62) das bislang streng geheime Verhandlungspapier veröffentlicht. Das ist aussergewöhnlich. Denn nun ist für alle klar, was auf den Tisch kommt.
Alles zum neuen EU-Plan
Neue Abkommen
Anders als beim Rahmenkommen sollen nun die institutionellen Fragen in den einzelnen Verträgen bestimmt werden. 20 Punkte auf 13 Seiten umfasst das Common Understanding zwischen der Schweiz und der EU. Darin geregelt sind die unterschiedlichsten Themen. Die Personenfreizügigkeit etwa, der Umgang im Streitfall. Aber auch geplante neue Abkommen – zum Beispiel beim Strom.
Dabei handle es sich um Landezonen, die man jetzt auf Landepunkte reduzieren müsse, sagte Cassis am Freitag an der Medienkonferenz. Aber: Bisher ist nichts definitiv, alles kann noch verhandelt werden. Neue Forderungen bleiben erlaubt – von beiden Seiten.
Das Rahmenabkommen war 2021 gescheitert, weil der Bundesrat keine Möglichkeit sah, wie dieses Papier eine Volksabstimmung überstehen könnte. Die SVP stellte sich grundsätzlich gegen dynamische Rechtsübernahme und zu viel Einfluss des EU-Gerichtshofs. Die Linke und die Gewerkschaften fürchteten sich vor dem Lohnschutz.
Zugeständnisse an die SP
Und jetzt? Cassis sagt, das Papier sei ein stabiles Fundament. Unter anderem beim Lohnschutz habe sich einiges verbessert.
Mehr zu den Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU.
Das neue Papier sieht vor, dass die Schweiz die Unionsbürgerrichtlinie übernehmen will. Doch es gibt auch Ausnahmen, wie Noch-Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider (59) sagte. Zum einen bei den Landesverweisen: Die bisherige Praxis kann fortgesetzt werden. Eine weitere Ausnahme: Das Daueraufenthaltsrecht, das EU-Bürgern nach fünfjährigem Aufenthalt zusteht, soll nur Erwerbstätigen offenstehen.
Zugeständnisse an die SVP also. Doch diese schimpfte am Freitag bereits weiter. Das neue EU-Verhandlungsmandat sei «alter Wein in neuen Schläuchen». Und spricht von einem «vergifteten Weihnachtsgeschenk». Die Schweiz müsse die direkte Demokratie aufgeben und sich «der EU unterwerfen». Von der SVP sind also keine Kompromisse zu erwarten.
Gewerkschaften fordern Nachbesserungen
Daniel Lampart (55), Chefökonom beim Gewerkschaftsbund, sieht Vor- und Nachteile im Vergleich zum alten Rahmenabkommen. «Eine Verbesserung ist, dass wir die Lohnkontrolle in einem Abkommen garantiert haben. Eine Verschlechterung ist aber die Spesenregelung der EU.»
Heisst konkret: Wenn ein polnisches Unternehmen in Zürich arbeitet, muss die Firma den Angestellten nicht die Schweizer Zmittag- und Hotelpreise bezahlen, sondern nur jene, die in Polen üblich sind. «Diese Spesenregel öffnet Tür und Tor für Lohndumping», sagt Lampart.
Auch Adrian Wüthrich (44) von Travailsuisse sieht den grössten Kritikpunkt in der Spesenregelung. Ohne Zugeständnis der EU werde es schwierig. «Es wird eine Volksabstimmung geben. Das Volk wird einer Aushöhlung des Lohnschutzes nicht zustimmen.» Trotzdem sagt er: «Die institutionellen Fragen pro Abkommen zu regeln, ist von Vorteil. Nun haben wir bei den einzelnen Verträgen mehr Verhandlungsspielraum.»
Von der Leyen begrüsst Entwurf für Verhandlungsmandat
Der Entwurf des EU-Mandats ist auch für die Economiesuisse eine deutliche Verbesserung. «Die generelle Guillotine-Klausel ist weg, die flankierenden Massnahmen konnten abgesichert werden, die staatlichen Beihilfen beziehen sich nur auf die Strom-, Luftverkehrs- und Landverkehrsabkommen. Beim Lohnschutz ist die Non-Regression-Klausel drin», sagt Jan Atteslander (60), Bereichsleiter Aussenwirtschaft. Das alles seien elementare Verbesserungen, die die Schweizer Diplomaten der EU abgerungen haben.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (45) und EU-Vize-Kommissar Maroš Šefčovič (57) haben sich über den Schweizer Mandatsentwurf erfreut gezeigt. Trotzdem weiss auch Cassis, dass noch nicht alles unter Dach und Fach ist: «Der Teufel steckt im Detail.» Bis die Schweiz mit der EU also zumindest ein Konkubinat eingehen kann, muss noch einiges passieren.
Was der Entscheid für den EU-Deal bedeutet
Seit Jahren diskutiert die Schweiz mit der EU, wie die Beziehungen weiter gehen sollen. Nun hat der Bundesrat das Verhandlungsmandat veröffentlicht. Sind jetzt alle EU-Probleme gelöst? Was steht im Verhandlungsmandat? Die wichtigsten Fragen und Antworten findest du in diesem Artikel.
SP unterstützt Verhandlungen und verlangt Präzisierungen
Die SP unterstützt den Bundesrat in seinen Bestrebungen, Verhandlungen mit der EU aufzunehmen. Dies bekräftige die Partei in einer Stellungnahme im Kurznachrichtendienst X, vormals Twitter. Sie hatte allerdings bereits am Vortag Präzisierungen und Ergänzungen in dem in Aussicht gestellten Verhandlungsmandat mit der EU verlangt.
Sie warnte etwa vor einer Aushöhlung des Lohnschutzes. Dazu müsse mit Hilfe einer Nicht-Regressions-Klausel das «heutige Schutzniveau» bei den Löhnen dauerhaft gewährleistet werden, forderte die SP.
Dank der Einführung eines «Anti-Erosions-Pakts für das Arbeitsgesetz und die Arbeitsbedingungen» sollen die Flankierenden Massnahmen aufrechterhalten werden können, auch wenn sie etwa vom Schiedsgericht als unverhältnismässig eingestuft würden, so die Vorstellung der SP.
SVP will «jede institutionelle Anbindung an die EU» bekämpfen
Die SVP hat den Entwurf für ein neues Verhandlungsmandat mit der EU abgelehnt. Sie bezeichnete diesen in einer Mitteilung als «alten Wein in neuen Schläuchen» und als «vergiftetes Weihnachtsgeschenk». Die Partei will «jede Form der institutionellen Anbindung an die EU mit allen Mitteln bekämpfen».
Der Bundesrat wolle die Schweiz institutionell an die EU anbinden, schrieb die SVP. Damit sei die «Mitte-Links-Mehrheit im Bundesrat» bereit, automatisch EU-Recht zu übernehmen sowie den europäischen Gerichtshof (EuGH) als letzte Instanz für die Streitbeilegung zu akzeptieren.
Die SVP lehne dies entschieden ab und werde «mit allen Mitteln» für den Erhalt einer souveränen Schweiz kämpfen. Die Partei will unter anderem eine eigenständige Steuerung der Zuwanderung.
EU-Kommission begrüsst bisher mit der Schweiz erreichte Ziele
Die EU-Kommission begrüsst das nach 18 Monaten mit der Schweiz gemeinsam erreichte «Common Understanding». Das Dokument lege ein breites und ausgewogenes Massnahmenpaket fest, das die Modernisierung und Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen unterstützen soll, schreibt die EU-Kommission in einer Mitteilung.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zeigte sich gegenüber Bundespräsident Alain Berset erfreut über den Abschluss der Sondierungsgespräche nach 18 Monaten intensiven Austauschs: «Das ist ein bedeutender Schritt in Richtung einer neuen Phase in den bilateralen Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz. Ich bin zuversichtlich, dass wir auf dieser konstruktiven Dynamik aufbauen können.»
Möglich bis zum Wechsel der Kommission?
Die EU wählt im kommenden Jahr. Genügt es für einen Abschluss unter der jetzigen Kommission, will ein Journalist wissen. Cassis antwortet ausweichend: Man wolle «so schnell wie möglich, so langsam wie nötig» verhandeln. Wenn die EU der Schweizer Wunschliste komplett entgegenkomme, wäre man in zwei Wochen fertig.
Damit ist die Medienkonferenz beendet.
Muss die Verfassung geändert werden?
Auf eine Journalistenfrage sagt Cassis, dass das Thema einer möglichen Verfassungsänderung noch komme. Es sei aber davon auszugehen, dass es zu einer Abstimmung komme – entweder braucht es dann einfach nur das Volksmehr oder auch ein Ständemehr.
Paket hat keinen Namen
Ein Journalist fragt, warum das Paket keinen Namen habe – anders als das «Rahmenabkommen». «Sie dürfen ihm einen Namen geben», sagt Aussenminister Cassis. Man sei aber selbst vorsichtig mit einer Taufe. Der Name «Bilaterale» sei zwar in der Schweiz positiv besetzt, in der EU aber nicht, weil es einen Sonderstatus hervorhebe.
Arbeitgeberverband will rasche Verhandlungen mit der EU
Der Schweizerische Arbeitgeberverband begrüsst den Entwurf zum Verhandlungsmandat. Er fordert den Bundesrat auf, die Verhandlungen mit der EU rasch zu starten und hart zu verhandeln.
Geordnete Verhältnisse zum wichtigsten Handelspartner der Schweiz seien für die Schweiz von grosser Bedeutung. Weitere Verzögerungen seien für die Schweizer Wirtschaft «schmerzhaft».
Die Arbeitgeber würden daran arbeiten, dass auch das bisherige Lohnschutzniveau gehalten werden könne. Hingegen lehnen sie die für die Wirtschaft «höchst schädliche Forderungen» wie die erleichterte Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen oder nationale Mindestlöhne ab. Diese hätten nichts mit den Verhandlungen mit der EU zu tun.
Schiedsgericht: EU-Gerichtshof ein Element
Die Auslegung des EU-Gerichtshof sei ein Element der Entscheidungen, die ein gemeinsames Schiedsgericht treffen würde, falls es zu einem Streit komme. Der Streit selbst werde aber immer vom Schiedsgericht beurteilt, der Europäische Gerichtshof dürfe also nicht entscheiden.
FDP begrüsst «wichtigen Schritt» und richtet Appell an Parteien
Die FDP hat den vom Bundesrat vorgelegten Entwurf für die Weiterentwicklung der bilateralen Beziehungen mit der EU als «wichtigen Schritt in die richtige Richtung» begrüsst. Es sei nun unerlässlich, dass alle Akteure ihre Verantwortung wahrnehmen und sich für nachhaltige Lösungen einsetzen, teilte die Partei mit.
Gute und verlässliche Beziehungen mit der EU seien für die Wirtschaft und die Gesellschaft entscheidend. Der bilaterale Weg habe sich für beide Seiten als die beste Option erwiesen. Mit einem Verhandlungsmandat würden die Voraussetzungen für eine Fortsetzung und eine Weiterentwicklung des bilateralen Wegs geschaffen.