28 Minuten braucht die Tramlinie 8 vom Bahnhof Basel SBB, um die Schweiz mit der Europäischen Union zu verbinden. Der Bundesrat um Aussenminister Ignazio Cassis (62) braucht länger.
Seit Jahren diskutiert die Schweiz mit der EU, wie die Beziehungen weiter gehen sollen. Nun hat der Bundesrat das Verhandlungsmandat veröffentlicht. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Sind jetzt alle EU-Probleme gelöst?
Nein. Böse Zungen würden behaupten: Die Probleme gehen erst richtig los. Das Verhandlungsmandat zeigt die Seite des Bundesrats und wie er mit der EU verhandeln will. Zwar haben bereits Sondierungsgespräche mit Brüssel stattgefunden, die eigentlichen Verhandlungen beginnen aber erst. Und danach dürfte es noch eine Volksabstimmung in der Schweiz geben, wofür Cassis die Bevölkerung überzeugen muss.
Was steht im Verhandlungsmandat?
Inhaltlich gibt es kaum Neuigkeiten. Das Vertragspaket ist in den Eckpunkten schon länger bekannt. Der Umfang ist riesig. Er beinhaltet technisch komplexe und politisch umstrittene institutionellen Fragen bezüglich Rechtsübernahme oder Streitschlichtung. Neue Abkommen für Themen wie Strom und Gesundheit. Details zu den Themen Zuwanderung, Lohnschutz oder Zugang zur Sozialhilfe.
Neu ist allerdings der Zeithorizont. Die Schweiz und die EU sind sich einig, dass die Verhandlungen im Frühjahr 2024 unverzüglich aufgenommen und bis Ende des gleichen Jahres abgeschlossen werden sollen.
Der Bundesrat hat ausserdem die Zusammensetzung der Schweizer Delegation festgelegt, die mit der EU verhandeln soll. Als Chefunterhändler setzt sie Patric Franzen ein. Er ist Leiter der Abteilung Europa im Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten und stellvertretender Staatssekretär.
Was ist jetzt anders als beim gescheiterten Rahmenabkommen?
Das Rahmenabkommen sollte ein Vertrag sein, der einen Rahmen um die bestehenden Verträge und allfällige neue legen sollte. Nun will der Bundesrat die institutionellen Fragen in jedem Abkommen einzeln regeln. So sind spezifische Regelungen möglich – doch es wird auch komplexer.
«Der Paketansatz ist breiter angelegt als die im Mai 2021 abgebrochenen Verhandlungen über ein Rahmenabkommen», sagte Cassis an der Medienkonferenz. Er biete mehr Flexibilität und Handlungsspielraum, um die Interessen der Schweiz während der Verhandlungen zu wahren.
Wie geht es weiter?
Das Verhandlungsmandat wird jetzt den beiden Aussenpolitischen Kommissionen von National- und Ständerat sowie den Kantonen vorgelegt werden. Sie dürfen sich dazu äussern. Die eigentlichen Verhandlungen mit der EU könnten dann im Februar oder März beginnen.
Das Problem: Anfangs Juni finden europaweit Wahlen statt: Die Union wählt ein neues Parlament. Dieses muss danach eine neue Kommission bestimmen. Somit dürften frühestens im Herbst 2024 die Verhandlungen weitergehen – wenn man nicht vorher eine Lösung findet.
Finden sich die Schweiz und die EU, dürfte es zu einer Volksabstimmung in der Schweiz kommen.
Warum braucht die Schweiz überhaupt ein Abkommen?
Die Schweiz ist kein Mitglied der EU. Aber sie pflegt enge Beziehungen zu ihr. Denn die EU ist ihr wichtigster Handelspartner. Die Schweiz ist Teil des europäischen Binnenmarkts, einem gemeinsamen Markt für freien Handel. Um daran teilzunehmen, hat sie verschiedene Verträge mit der EU geschlossen.
Mit dem neuen EU-Deal soll geklärt werden, wie diese Regeln entwickelt, überwacht und interpretiert werden. Er regelt auch, wie Streitigkeiten gelöst werden, wenn unterschiedliche Auffassungen bestehen.
Warum dauert das so lange?
Die Schweiz verhandelt seit 2014 mit der EU über ein sogenanntes Rahmenabkommen. Doch im Mai 2021 beschloss der Bundesrat, die Verhandlungen abzubrechen und den Vertrag nicht zu unterschreiben.
Wie stehen die Chancen jetzt?
Am Rahmenabkommen gab es mehrere Kritikpunkte. Die Gewerkschaften fürchteten, dass der Schweizer Lohnschutz aufgeweicht wird, während die SVP die dynamische Rechtsübernahme und die Macht des EU-Gerichtshofs kritisierte. Schlussendlich sah der Bundesrat keine Mehrheit in der Schweiz für ein Abkommen.
Bislang sorgten in Europafragen jeweils eine Mitte-links-Koalition für die Mehrheiten. Weil die SVP wohl kaum zu Kompromissen bereit ist, entscheidet die Position der SP und der Gewerkschaften. Diese haben bereits jetzt Forderungen gestellt. Ob sie erfüllt werden können, wird sich erst während der Verhandlungen zeigen. Klar ist aber schon jetzt, dass es nicht einfach wird.
Was passiert ohne Abschluss?
Seit die Schweiz die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen abgebrochen hat, setzt die EU Nadelstiche, wo sie nur kann. So gibt es zum Beispiel keine neuen Abkommen. Diese wären aber auch für die Schweiz wichtig, zum Beispiel beim Thema Strom. Das Stromnetz der Schweiz ist eng mit jenem der EU verbunden. Ohne Abkommen könnten im Winter Stromimporte wegfallen.
Ohne Lösung für die institutionellen Fragen dürfte es weiterhin keine neuen Verträge geben. Auch die Zusammenarbeit bei der Forschung dürfte noch schwieriger werden. Schon jetzt können Schweizer Hochschulen keine Horizon-Projekte mehr leiten. Forscherinnen und Projekte wandern deshalb in EU-Länder ab. (bro/oco)