Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard attackiert BVG-Reform
«Der typische Mittelstand verliert am meisten»

Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard sagt im Blick-Interview, warum er die Pensionskassen-Reform ablehnt, weshalb der Mittelstand am meisten unter der Vorlage leide und wie er die Rentensituation für niedrige Einkommen verbessern will.
Publiziert: 15.07.2024 um 00:51 Uhr
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Aktualisiert: 15.07.2024 um 08:14 Uhr
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Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard bekämpft die neue Pensionskassen-Reform: «Das Kernstück dieser Reform ist eine Senkung des obligatorischen Umwandlungssatzes um 12 Prozent. Das sind tiefere Renten!»
Foto: Thomas Meier
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Ruedi StuderBundeshaus-Redaktor

Für Gewerkschaftsboss und SP-Ständerat Pierre-Yves Maillard (56) ist 2024 ein sozialpolitisches Hammerjahr. Den Kampf für die 13. AHV-Rente hat er gewonnen, die Prämien-Initiative verloren – und nun steht der Showdown um die Reform der beruflichen Vorsorge (BVG) an. Am 22. September entscheidet das Stimmvolk.

Blick: Herr Maillard, haben Sie sich bei Ihrer Pensionskasse schon erkundigt, was die BVG-Reform für Sie bedeutet – wie das Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (60) empfiehlt?
Pierre-Yves Maillard: Ich bin ein Sonderfall, da ich meine Rente als alt Regierungsrat vom Kanton Waadt erhalten werde. Mich persönlich betrifft die Reform also nicht, für unzählige Menschen aber bedeutet sie eine Rentensenkung. Das ist inakzeptabel.

Viele Geringverdienende und Teilzeitarbeitende können sich doch eine bessere BVG-Rente aufbauen.
Zuerst muss ich Sie daran erinnern, woher diese Reform kommt: von der Finanzindustrie. Diese sagt uns seit Jahren, die Renten seien immer noch zu hoch. Das Kernstück dieser Reform ist deswegen eine Senkung des obligatorischen Umwandlungssatzes um 12 Prozent. Das sind tiefere Renten! Und jetzt behaupten die Befürworter, dass kaum jemand betroffen sei und Ärmere eine bessere Rente bekommen. Das ist Propaganda.

«Die Leute haben genug, dass man jedes Jahr weniger bekommt»
2:36
Pierre-Yves Maillard:«Die Leute haben genug davon, dass man jedes Jahr weniger bekommt»

Fakt ist, dass bei niedrigen Einkommen mehr Lohn versichert wird und damit mehr gespart werden kann. Für Geringverdiener bedeutet das eine höhere BVG-Rente.
Das Perfide ist doch: Tieflöhner haben auf dem Papier eine höhere BVG-Rente – unter dem Strich bleibt vielen aber weniger Geld im Portemonnaie. Sie müssen bis zur Pensionierung mehr Geld in die Pensionskasse einzahlen und haben damit jeden Monat 100 oder 200 Franken weniger Nettolohn. Trotzdem bleiben viele im Alter auf Ergänzungsleistungen (EL) angewiesen, weil ihre BVG-Rente sowieso nicht zum Leben reicht. Unter dem Strich zahlen sie drauf.

Es ist besser, eine eigene BVG-Rente zu haben, als um Ergänzungsleistungen bitten zu müssen. So ist man auch bei Invalidität oder Todesfall versichert.
Das sind schöne Theorien. Aber die Realität ist oft anders. Diejenigen, die mit dieser Reform den EL-Anspruch knapp verlieren, werden in der Pension eigentlich weniger Geld haben am Ende des Monats. Wegen der Steuern und Krankenkassenprämien. Dieser Schwelleneffekt ist bekannt. Und wissen Sie, wer ebenfalls leiden wird?

Das sind die Eckwerte der Pensionskassen-Reform

Es war ein hochfliegendes Reformprojekt des damaligen SP-Sozialministers Alain Berset (52): die Altersvorsorge 2020, mit der er AHV und Berufliche Vorsorge (BVG) gleichzeitig reformieren wollte. Doch in der Abstimmung 2017 folgte der Absturz. Mit 52,7 Prozent Nein schickte das Stimmvolk die Rentenreform bachab.

Daraufhin packten Bundesrat und Parlament die beiden Säulen getrennt an. Einen knappen Abstimmungserfolg verbuchte Berset zusammen mit der bürgerlichen Parlamentsmehrheit letztens bei der AHV-Reform, mit der eine Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 erfolgte.

Nun ist die Pensionskassen-Reform an der Reihe, die eine bürgerliche Mehrheit im Parlament gegen den Widerstand der Linken durchgebracht hat. Linke und Gewerkschaften haben erfolgreich das Referendum ergriffen, sodass das Stimmvolk nun am 22. September 2024 über die Reform entscheiden wird.

Das sind die wichtigsten Eckwerte:

Tieferer Umwandlungssatz

Der Mindestumwandlungssatz im BVG-Obligatorium soll von heute 6,8 Prozent auf 6,0 Prozent sinken. Das bedeutet: Auf 100'000 Franken angespartes Alterskapital gibt es nur noch 6000 statt 6800 Franken Rente pro Jahr. Das führt zu einer Rentenlücke von rund 12 Prozent.

Rentenzuschlag für Übergangsgeneration

Es ist das eigentliche Herzstück der Vorlage. Die drohende Rentenlücke soll über einen Rentenzuschlag ausgeglichen werden. Allerdings nur für eine Übergangsgeneration von 15 Jahrgängen. Zudem wird er nach Alter und Einkommen abgestuft. Für die ersten fünf Jahrgänge gibt es maximal 200 Franken monatlich, dann sinkt er ab. Wer weniger als 220'500 Franken in der Pensionskasse hat – etwa ein Viertel der Versicherten – bekommt den vollen Zuschlag. Ein weiteres Viertel mit bis 441'000 Franken Altersguthaben erhält einen Teilzuschlag. Wer mehr Geld im Rentenkässeli hat, geht leer aus. Gut die Hälfte der Versicherten bekommt also nichts. Finanziert wird der Rentenzuschlag über Lohnabzüge – allerdings begrenzt bis 176'400 Franken.

Flexibler Koordinationsabzug

Vom sogenannten Koordinationsabzug hängt ab, wie hoch der versicherte Lohn ausfällt. Einkommen minus Koordinationsabzug ergibt die versicherte Lohnsumme. Galt bisher ein fixer Abzug von 25'725 Franken, soll dieser neu 20 Prozent des Einkommens betragen. Das BVG-Obligatorium gilt bis 88'200 Franken Einkommen. Der Abzug würde in diesem Fall also 17'640 Franken ausmachen. Unter dem Strich bleibt somit ein versicherter Lohn von 70'560 Franken. Auf Letzterem müssten also die Lohnbeiträge bezahlt werden.

Angepasste Altersgutschriften

Die Lohnbeiträge in die Pensionskasse – die sogenannten Altersgutschriften – werden mit der Reform geglättet: Bis im Alter von 44 Jahren beträgt die Altersgutschrift künftig 9 Prozent (bisher 7 beziehungsweise 10 Prozent) auf dem BVG-pflichtigen Lohn. Ab 45 Jahren sind es 14 Prozent (bisher 15 beziehungsweise 18 Prozent). Damit werden die Altersgutschriften gerade bei den älteren Arbeitskräften gesenkt. Das soll ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern. Die Beiträge sollen wie heute ab 25 Jahren gezahlt werden.

Tiefere Eintrittsschwelle

Um in einer Pensionskasse versichert zu sein, muss man heute bei einem Arbeitgeber mindestens 22'050 Franken jährlich verdienen. Nach einem langen Hin und Her hat sich das Parlament darauf geeinigt, dass die Eintrittsschwelle auf 19'845 Franken sinken soll. Damit würden 70'000 Personen neu in einer Pensionskasse versichert, 30'000 Personen stärker als bisher. Insgesamt betrifft die Senkung 100'000 Arbeitnehmende.

Es war ein hochfliegendes Reformprojekt des damaligen SP-Sozialministers Alain Berset (52): die Altersvorsorge 2020, mit der er AHV und Berufliche Vorsorge (BVG) gleichzeitig reformieren wollte. Doch in der Abstimmung 2017 folgte der Absturz. Mit 52,7 Prozent Nein schickte das Stimmvolk die Rentenreform bachab.

Daraufhin packten Bundesrat und Parlament die beiden Säulen getrennt an. Einen knappen Abstimmungserfolg verbuchte Berset zusammen mit der bürgerlichen Parlamentsmehrheit letztens bei der AHV-Reform, mit der eine Erhöhung des Frauenrentenalters auf 65 erfolgte.

Nun ist die Pensionskassen-Reform an der Reihe, die eine bürgerliche Mehrheit im Parlament gegen den Widerstand der Linken durchgebracht hat. Linke und Gewerkschaften haben erfolgreich das Referendum ergriffen, sodass das Stimmvolk nun am 22. September 2024 über die Reform entscheiden wird.

Das sind die wichtigsten Eckwerte:

Tieferer Umwandlungssatz

Der Mindestumwandlungssatz im BVG-Obligatorium soll von heute 6,8 Prozent auf 6,0 Prozent sinken. Das bedeutet: Auf 100'000 Franken angespartes Alterskapital gibt es nur noch 6000 statt 6800 Franken Rente pro Jahr. Das führt zu einer Rentenlücke von rund 12 Prozent.

Rentenzuschlag für Übergangsgeneration

Es ist das eigentliche Herzstück der Vorlage. Die drohende Rentenlücke soll über einen Rentenzuschlag ausgeglichen werden. Allerdings nur für eine Übergangsgeneration von 15 Jahrgängen. Zudem wird er nach Alter und Einkommen abgestuft. Für die ersten fünf Jahrgänge gibt es maximal 200 Franken monatlich, dann sinkt er ab. Wer weniger als 220'500 Franken in der Pensionskasse hat – etwa ein Viertel der Versicherten – bekommt den vollen Zuschlag. Ein weiteres Viertel mit bis 441'000 Franken Altersguthaben erhält einen Teilzuschlag. Wer mehr Geld im Rentenkässeli hat, geht leer aus. Gut die Hälfte der Versicherten bekommt also nichts. Finanziert wird der Rentenzuschlag über Lohnabzüge – allerdings begrenzt bis 176'400 Franken.

Flexibler Koordinationsabzug

Vom sogenannten Koordinationsabzug hängt ab, wie hoch der versicherte Lohn ausfällt. Einkommen minus Koordinationsabzug ergibt die versicherte Lohnsumme. Galt bisher ein fixer Abzug von 25'725 Franken, soll dieser neu 20 Prozent des Einkommens betragen. Das BVG-Obligatorium gilt bis 88'200 Franken Einkommen. Der Abzug würde in diesem Fall also 17'640 Franken ausmachen. Unter dem Strich bleibt somit ein versicherter Lohn von 70'560 Franken. Auf Letzterem müssten also die Lohnbeiträge bezahlt werden.

Angepasste Altersgutschriften

Die Lohnbeiträge in die Pensionskasse – die sogenannten Altersgutschriften – werden mit der Reform geglättet: Bis im Alter von 44 Jahren beträgt die Altersgutschrift künftig 9 Prozent (bisher 7 beziehungsweise 10 Prozent) auf dem BVG-pflichtigen Lohn. Ab 45 Jahren sind es 14 Prozent (bisher 15 beziehungsweise 18 Prozent). Damit werden die Altersgutschriften gerade bei den älteren Arbeitskräften gesenkt. Das soll ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern. Die Beiträge sollen wie heute ab 25 Jahren gezahlt werden.

Tiefere Eintrittsschwelle

Um in einer Pensionskasse versichert zu sein, muss man heute bei einem Arbeitgeber mindestens 22'050 Franken jährlich verdienen. Nach einem langen Hin und Her hat sich das Parlament darauf geeinigt, dass die Eintrittsschwelle auf 19'845 Franken sinken soll. Damit würden 70'000 Personen neu in einer Pensionskasse versichert, 30'000 Personen stärker als bisher. Insgesamt betrifft die Senkung 100'000 Arbeitnehmende.

Sie werden es mir gleich sagen.
Der Mittelstand! Das belegen selbst die Zahlen des Bundes. Das BVG-Obligatorium gilt bis zu einem Monatslohn von rund 6800 Franken. Das sind nicht die Reichen. Das ist der typische Mittelstand – Handwerker, Bauarbeiter oder Pflegefachkräfte. Die grössten Verlierer sind jene mit einem Einkommen zwischen 70'000 und 90'000 Franken. Am stärksten trifft es die heute 50-Jährigen: Sie bekommen bis zu 270 Franken weniger Rente – jeden Monat. Das ist ein Rentenverlust bis zu 15 Prozent.

Das ist Schwarzmalerei. Die grosse Mehrheit ist in Kassen versichert, die schon heute bessere Leistungen bezahlen, als das Gesetz vorschreibt. Die Reform betrifft nur eine Minderheit.
Eben nicht. Das Obligatorium gilt für alle – auch für jene, die darüber hinaus versichert sind. Wird der Umwandlungssatz gesenkt, sinkt auch die garantierte Mindestrente. Das gibt den Versicherern mehr Spielraum für weitere Rentensenkungen. Vielleicht nicht heute, vielleicht aber morgen. In den letzten 15 Jahren sind die Lohnbeiträge für die Pensionskassen um 14 Prozent gestiegen, die Renten um 300 Franken pro Monat gesunken. Während dieser Periode haben die Pensionskassen 400 Milliarden mehr Kapital angehäuft und besitzen jetzt ungefähr 150 Milliarden Reserven.

Der Gewerkschaftsboss

Pierre-Yves Maillard (56) ist seit Mai 2019 Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB). Sein grösster Sieg als Gewerkschaftsboss war das Ja des Stimmvolks zur 13. AHV-Rente im März dieses Jahres. Seit 2023 amtet er als Ständerat. Zuvor sass er ab 2019 wieder für die SP im Nationalrat – wie schon von 1999 bis 2004. Maillard ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Renens VD.

Pierre-Yves Maillard (56) ist seit Mai 2019 Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB). Sein grösster Sieg als Gewerkschaftsboss war das Ja des Stimmvolks zur 13. AHV-Rente im März dieses Jahres. Seit 2023 amtet er als Ständerat. Zuvor sass er ab 2019 wieder für die SP im Nationalrat – wie schon von 1999 bis 2004. Maillard ist verheiratet und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Renens VD.

Mit einem Nein ist die Rentenlücke bei den Niedriglöhnern nicht vom Tisch. Was ist die Alternative?
Mit einem tiefen Lohn bleibt eine gute Altersrente einzig mit Zinsgewinnen schwierig. Umso bedeutender ist für kleine Einkommen daher das Solidaritätsprinzip, wie wir es in der AHV kennen. Wir müssen die AHV stärken. Hier haben wir mit der 13. AHV-Rente bereits einen Fortschritt erreicht.

Kommt nun die Initiative für eine 14. AHV-Rente?
Nein (lacht). Wenn man die BVG-Renten verbessern will, braucht es einen Solidaritätsbeitrag, wie es der von den bürgerlichen Parteien abgelehnte Sozialpartner-Kompromiss vorgesehen hat. Wichtig wären auch Erziehungs- und Betreuungsgutschriften, wie wir sie in der AHV kennen. Gerade in Familien arbeiten viele Eltern Teilzeit, weil sie sich um die Kinder kümmern.

Diesen würde ein tieferer Koordinationsabzug helfen, wie es die Reform vorsieht.
Eine Senkung des Koordinationsabzugs ist nicht per se falsch. Als Pragmatiker schlage ich vor, dass wir diesen über einen gewissen Zeitraum hinweg graduell anpassen. Aber nicht wie jetzt zum Preis und als Kompensation für eine Rentensenkung.

Darum geht es bei der BVG-Reform
0:59
Baume-Schneider erklärt an MK:Darum geht es bei der BVG-Reform

Sie treten dieses Jahr zum dritten Mal gegen Ihre Parteikollegin Elisabeth Baume-Schneider an. Wer gewinnt diesmal das Duell?
Es gibt kein Duell! Es ist ja keine persönliche Auseinandersetzung. Ich engagiere mich als Gewerkschafter und sie muss als Bundesrätin kollegial eine Reform verteidigen, die die bürgerliche Mehrheit des Parlaments – gegen den Widerstand des Bundesrats – durchgedrückt hat.

Die Schlacht um die BVG-Reform ist vor den Sommerferien so richtig entbrannt. Machen Sie nun eine Kampfpause?
Mit meiner Familie mache ich im Juli zwei Wochen Ferien im Süden. Anfang August bin ich wieder zurück und engagiere mich voll in der Kampagne.

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