Die Delta-Variante breitet sich in der Schweiz weiter aus, und der Impfmotor stottert. Der Bund sieht nun besonders die Kantone in der Pflicht, Ungeimpfte für den Piks zu gewinnen. Zuvorderst an der Corona-Front kämpft auch der Basler Kantonsarzt Thomas Steffen (60). Man müsse die Impfungen weiter vorantreiben, um im Herbst eine günstige Ausgangslage zu haben, betont er im Blick-Interview.
Blick: Herr Steffen, die zunehmende Verbreitung der Delta-Variante macht weltweit Sorgen. Ist eine vierte Welle hierzulande unausweichlich?
Thomas Steffen: Die Delta-Variante breitet sich auch in der Schweiz schneller aus als die Alpha-Variante und wird in den nächsten Wochen auch hier dominieren. Wie sich die Delta-Variante auswirkt und ob eine vierte Welle kommt, hängt aber von der Impfsituation im jeweiligen Land ab – der Impfstrategie, den Impfstoffen oder der Impfrate. Immer vorausgesetzt, dass wir nicht mit neuen Mutationen neue Überraschungen erleben.
Wie beurteilen Sie die Impfsituation in der Schweiz?
Was die Strategie und den Impfstoff betrifft, stehen wir gut da. Wer zweimal mit einem mRNA-Impfstoff geimpft ist, ist gut geschützt. Gerade bei den Risikogruppen haben wir mit über 75 Prozent eine recht hohe Durchimpfungsrate, womit wir auch weniger Todesfälle verzeichnen.
Dann sind Sie mit der Impfquote zufrieden?
Was die Gesamtbevölkerung betrifft, müssen wir noch deutlich zulegen. Wenn wir bis im Spätsommer auf gut über zwei Drittel oder gar über 70 Prozent kommen, sind wir in einer günstigen Ausgangslage. Das ist ein realistisches Ziel. Wenn nicht, dann haben wir im Spätsommer oder Herbst eine relativ grosse Gruppe an Ungeimpften, in welcher sich das Virus stark verbreiten könnte.
Bisher ist schweizweit gut die Hälfte mindestens einmal geimpft. Bei welchen Gruppierungen harzt es?
Wir betreiben mit Befragungen ein Monitoring. Da zeigt sich bei Jungen, also den unter 40-Jährigen, noch viel Potenzial. Aber auch bei Gruppierungen mit Migrationshintergrund oder sozioökonomisch schwächeren Schichten.
Warum geht es da nicht schneller vorwärts?
Es gibt verschiedene Gründe. Im Moment spüren wir wegen der Sommerferien ein Impf-Sommerloch. Die Impftermine passen bei manchen schlecht in die Ferienplanung. Andere haben gerade noch Abschlussprüfungen, weshalb sie die Impfung hinausschieben. Und bei vielen steht die Impfung einfach nicht zuoberst auf der Prioritätenliste, weil sie sich nicht wirklich betroffen fühlen – und nicht etwa, weil sie per se gegen Impfungen sind. Die Gruppe der harten Impfgegner ist klein.
Wie wollen Sie die Unentschlossenen erreichen?
Mit gezielten Kampagnen. Wir müssen sie möglichst direkt ansprechen. Bei der ausländischen Bevölkerung beispielsweise arbeiten wir mit Kulturvereinen oder Vertrauenspersonen zusammen. So haben wir etwa mit der albanischen Community eine Videokonferenz organisiert und über die Impfung informiert. Auch mit Whatsapp-Nachrichten versuchen wir die Leute zu mobilisieren.
Wie kommen Sie denn zu diesen Nummern? Führen Sie eine Datenbank mit Geimpften und Ungeimpften?
Nein, die Impfangaben unterstehen dem Datenschutz! Wir haben aber in langjähriger Präventionsarbeit im Gesundheitsbereich Netzwerke aufgebaut. Mit einem Informationsdienst, für den man sich freiwillig anmelden kann, orientieren wir mittlerweile in 15 Sprachen via Whatsapp über Gesundheitsangebote – so auch die Corona-Impfung.
Der Aargau will nach den Sommerferien auch an Schulen Impfaktionen durchführen. Ziehen Sie da nach?
Nein, das ist derzeit nicht geplant. 12- bis 15-Jährige können sich in Begleitung der Eltern in den Impfzentren impfen lassen. Wenn die Teenies alleine kommen wollen, ohne Einwilligung der Eltern, brauchen sie das Einverständnis des Schularztes. Sollten später auch jüngere Kinder geimpft werden, wird dies wohl eher über die Kinderärzte geschehen.
Mal ganz ehrlich: Könnten wir auf die Impfanstrengungen nicht einfach verzichten? Wer sich impfen lassen will, ist geimpft. Wer nicht will, ist selber schuld und muss mit den Konsequenzen leben.
Das wäre blauäugig! Das könnte man nur sagen, wenn die Krankheit nur einen selbst betreffen würde. Der Haken ist aber, dass beim Coronavirus die Gesamtgesellschaft betroffen ist. Die unter 12-Jährigen zum Beispiel können sich noch nicht impfen lassen und sind dem Virus damit ausgeliefert. Ebenso jene, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können. Je weniger geimpft sind, desto wahrscheinlicher sind auch neue Mutationen. Jeder Geimpfte hilft mit, die Pandemie schneller zu überwinden.
Dann wäre doch ein Impfzwang das beste Mittel.
Nein, der ist nicht nötig. Und das ist auch gut so. Es wäre ein zu grosser Eingriff in die Persönlichkeitsrechte. Was die Impfungen betrifft: Das wars noch nicht! Ich bin zuversichtlich, dass die Impfquote nach den Sommerferien deutlich steigen wird. Erst recht, wenn die Fallzahlen wieder ansteigen sollten, werden es sich viele nochmals überlegen. Und die Jungen merken jetzt schon, dass es mit einer Impfung unkomplizierter in den Ausgang geht als mit der ständigen Testerei. Wir müssen die Impfinfrastruktur deshalb aufrechterhalten, möglichst niederschwellig.
Und wenn die vierte Welle doch kommt – braucht es dann wieder einen schweizweiten Lockdown?
Nein, da müsste schon mehr passieren – etwa eine neue gefährliche Mutation auftauchen, die den Impfschutz aushebelt. Angesichts der jetzigen Situation ist ein schweizweiter Lockdown in weiter Ferne und kaum mehr erforderlich. Es könnte aber lokale Massnahmen geben, wenn es erneute Ausbrüche gibt.
Zum Beispiel?
Dass die Maskenpflicht in einzelnen Kantonen wieder ausgeweitet wird. Oder dass das Ampelsystem beim Covid-Zertifikat angepasst wird, so dass zum Beispiel an gewissen Orten auch kleinere Veranstaltungen oder Bars und Restaurants temporär nur mit Covid-Zertifikat zugänglich sind. Wir haben aber alle das gleiche Ziel: so rasch wie möglich zurück zur Normalität.