Monatelange Vorbereitung mit den USA
Die ukrainische Gegenoffensive war genial geplant

In der Region Charkiw war die Gegenoffensive ein voller Erfolg. Es stand aber auch viel auf dem Spiel. Jetzt wird bekannt, wie die Ukraine ihren klugen Schachzug gegen die russischen Truppen mit Hilfe der USA vorbereitete.
Publiziert: 14.09.2022 um 12:39 Uhr
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Aktualisiert: 23.08.2023 um 13:52 Uhr
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Präsident Wolodimir Selenski machte klar, dass die Ukraine einen Sieg braucht.
Foto: Future Publishing via Getty Images
Jenny Wagner

6000 Quadratkilometer in der Region Charkiw sind nach monatelanger russischer Besetzung wieder unter ukrainischer Kontrolle. Die erfolgreiche Gegenoffensive war keinesfalls ein zufälliger Glückstreffer: Hinter ihr steckte eine monatelange Planung – und exzellentes Timing. 

Wie die «New York Times» berichtet, liess sich die Ukraine für die Gegenoffensive in den vergangenen Monaten von US-Militärs beraten. An den vielen Gesprächen war auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) beteiligt. In einem soll er gesagt haben: «Ich will einen bedeutenden Schritt machen, um zu zeigen, dass wir die russische Invasion zurückdrängen können.»

Die Lage in der Ukraine war dramatisch: Jeden Tag verzeichnete das Land Hunderte von Todesopfern, während die russischen Truppen immer weiter vorrückten und eine Stadt nach der anderen verwüsteten. 

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Spiel mit dem Feuer: Sieg schien unwahrscheinlich

Die Chancen eines erfolgreichen Befreiungsschlags sahen darum zunächst schlecht aus. Als der Krieg im Februar ausbrach, hatte die Ukraine hauptsächlich Waffen und Munition aus Zeiten der Sowjet-Union. Bald schon fehlten Kugeln, das ukrainische Militär musste mitten im Krieg lernen, mit den modernen Waffen des Westens umzugehen.

Auch Prognosen sagten Übles voraus: Etliche Analysen des britischen und amerikanischen Geheimdienstes endeten mit der dramatischen Niederlage der Ukraine. Selenski war aber nicht bereit, die Gegenoffensive aufzugeben.

Einen Vorteil hatte die ukrainische Armee gegenüber der russischen: Die Motivation und die Bereitschaft, das eigene Land zu schützen, blieb über all die Monate bestehen. Beim russischen Militär hingegen bröckelte sie. Die Kritik am Kreml innerhalb der eigenen Reihen wurde lauter.

Am Ende stand der Plan für die Gegenoffensive: Es sollte zwei Angriffe gleichzeitig geben anstelle eines grossen. Entgegen Aussagen, dass es sich bei der gross angekündeten Offensive im Süden um ein Täuschungsmanöver zur Deckung des Angriffs im Osten gehandelt habe, plante die Ukraine tatsächlich beide Vorstösse: Einen in die Region Charkiw, den anderen nach Cherson im Süden. Die Amerikaner schickten der Ukraine die Waffen, die sie für den Angriff benötigten. So sollte Selenskis Wunsch vom «klaren Sieg» in Erfüllung gehen. 

Scheinbar bekam Moskau Wind von einer geplanten Offensive. «Wir konnten sehen, dass die Russen viele ihrer besten Streitkräfte in den Süden verlegten, um sich auf die Gegenoffensive der Ukraine vorzubereiten», sagt Colin Kahl (51), Leiter des Pentagons, zur «New York Times». Während sie im Süden aufrüsteten, wurde die Region Charkiw zur Achillesferse der Russen – niemand rechnete dort mit einem so starken Angriff. Also entschied sich die Ukraine, dort loszuschlagen. 

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Das richtige Timing war essenziell

Entscheidend für den Erfolg der Gegenoffensive war das Timing. Sie musste vor dem ersten Schnee stattfinden, bevor Wladimir Putin (69) seine Kontrolle über die Gaslieferung nutzen könnte, um Europa unter Druck zu setzen. 

Letzte Woche war es dann endlich so weit: Das ukrainische Militär griff im Nordosten in der Region Charkiw an und eroberte einen Ort nach dem anderen zurück. Den russischen Truppen blieb nur noch die Flucht. Sie liessen sogar ihre Waffen liegen. Mit einem solchen Sieg hatten nicht einmal die Ukrainer gerechnet. 

Doch die Kämpfe gehen weiter. Die Gegenoffensive im Süden sei kein Ablenkungsmanöver, sagen anonyme Quellen aus dem amerikanischen Verteidigungsministerium gegenüber der «New York Times». In Cherson könnte es aber noch Wochen dauern, bis es einen klaren Sieg gibt. Denn dort sind sehr viel mehr russische Truppen stationiert.

Zumindest einen symbolischen Sieg erzielte die Ukraine aber auch im Süden: Moskau wollte darüber abstimmen lassen, ob sich die südlichen Regionen Russland anschliessen. Die Wahlen mussten aber wegen der Angriffe verschoben werden.

Klar ist: Die russische Armee wurde durch die Angriffe enorm geschwächt. «Es ist noch nichts entschieden», schätzt Kahl die Situation ein. «Aber ich denke, die Gegenoffensive beweist der Welt, dass die Ukrainer in der Lage sind, komplexe, offensive Operationen durchzuführen.»

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