«Ich habe keine Angst vor Putin!»
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Selenski über den Diktator:«Ich habe keine Angst vor Putin!»

30 Ortschaften zurückerobert – Russen in Panik
Ukrainer legen mit Trick Putins Truppen rein

Sie kündigten im Süden eine Gegenoffensive an – und schlugen im Osten zu: Die Ukrainer haben rund 30 Städte und Dörfer zurückerobert. Nun geben sie zu, dass es sich um eine Finte gehandelt hat.
Publiziert: 11.09.2022 um 11:26 Uhr
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Aktualisiert: 24.08.2023 um 14:46 Uhr
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In der Region Charkiw greifen ukrainische Soldaten mit einer aus den USA gelieferten M777-Haubitze die russischen Besatzer an.
Foto: keystone-sda.ch
Guido Felder

Explosionen auf der Krim, Angriffe auf Cherson: In den vergangenen Tagen richtete sich der Fokus im Ukraine-Krieg auf den Süden des Landes. Präsident Wolodimir Selenski (44) hatte auf allen Kanälen angekündigt, in dieser Region eine Gegenoffensive zu starten.

Doch nun haben die Ukrainer stattdessen überraschend im Osten zugeschlagen und nach eigenen Angaben Geländegewinne von rund 2000 Quadratkilometern gemacht. Dazu gehören rund 30 Städte und Dörfer, darunter die strategisch wichtigen Städte Kupjansk und Isjum, die zurückerobert worden sind.

Diese Rückeroberung dürfte der bedeutendste Erfolg der Ukraine beim Zurückdrängen der Russen seit Beginn der Invasion sein. Durch diese Eroberungen ist es den ukrainischen Streitkräften gelungen, die Nachschubwege der russischen Verbände abzuschneiden.

Insgesamt haben die Ukrainer in wenigen Tagen mehr Boden bei Charkiw gutgemacht als die Russen in ihrer monatelangen Donbass-Offensive. Berichten zufolge ziehen sich die russischen Kräfte in der Region teilweise Hals über Kopf zurück und lassen dabei schweres Gerät wie Panzer, Truppentransporter und Radarsysteme zurück.

Seit Monaten vorbereitet

Laut Medienberichten haben ukrainische Spezialkräfte nun zugegeben, dass die gross präsentierte Gegenoffensive im Süden ein Ablenkungsmanöver gewesen sei, um von der eigentlichen Offensive im Osten abzulenken. Sie soll seit Monaten vorbereitet gewesen sein.

Taras Berezovets, ein ehemaliger nationaler Sicherheitsberater und aktueller Presseoffizier der Bohun-Brigade der ukrainischen Spezialkräfte, erklärt gegenüber dem britischen «Guardian»: «Russland dachte, die Offensive würde im Süden sein, und verlegte seine Ausrüstung dorthin. Dann fand die Offensive nicht im Süden statt, sondern dort, wo sie es am wenigsten erwartet hatten, was sie in Panik versetzte und zur Flucht veranlasste.»

Es heisst, dass Russland 1300 der gefürchteten tschetschenischen Kämpfer in den Süden verlegt habe. Auch Ausrüstung und Soldaten aus Charkiw seien in den Süden gebracht worden. Berezovets: «In der Zwischenzeit wurden unsere Männer in Charkiw mit den besten westlichen, vor allem amerikanischen, Waffen ausgestattet.»

Das Blatt wendet sich

Auch das britische Verteidigungsministerium berichtete, dass die Russen von den Ukrainern überrascht worden seien. «Da die ukrainischen Operationen auch in Cherson weitergehen, steht die russische Verteidigungsfront sowohl an der Nord- als auch an der Südflanke unter Druck», hiess es.

Auf Twitter schreibt der australische General ausser Dienst, Mick Ryan, dass die Ukraine wohl die Initiative übernommen habe, und zwar taktisch wie operativ. Der Krieg sei zwar noch lange nicht vorbei, «aber vielleicht wendet sich das Blatt jetzt endlich».

Schon vor einigen Wochen sagten ETH-Militärexperten gegenüber Blick, dass die Ukraine das Blatt gewendet habe und sie nicht ausschlössen, dass sie sämtliche von den Russen eroberten Gebiete wieder zurückholen könnten.

In seinem Newsletter schliesst der britische Militärhistoriker Lawrence Feedman sogar einen baldigen Kollaps der russischen Kriegsmaschinerie nicht aus. Eine vermeintlich robuste und gut ausgerüstete Armee könne zusammenbrechen und nach Fluchtwegen suchen, schreibt er und verweist auf die afghanische Armee, die sich in wenigen Wochen aufgelöst hatte.

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Allerdings ist es nicht sicher, ob und wie lange der Erfolg der Ukrainer tatsächlich anhalten wird. So twittert der deutsche Politikwissenschaftler und ehemalige Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik, Johannes Varwick: «Die Erfolgsmeldungen bez. ukrainischer militärischer Erfolge ändern m. E. nichts am Gesamtbild: Russland hat (leider) die Eskalationsdominanz und mittelfristig die höhere Durchhaltefähigkeit.»

Krieg an zwei Fronten

ETH-Sicherheitsexperte Benno Zogg (32) bezeichnet den Vorstoss der Ukrainer als «gelungene Strategie». Es werde an der ganzen Front gekämpft, aber um Charkiw habe die Ukraine nun überraschend einen zweiten Schwerpunkt der Kampfhandlungen gesetzt.

Betrachte man die letzten Monate insgesamt, ergebe sich ein leichter ukrainischer Vorteil, aber in der Gesamtbetrachtung doch nur ein begrenzter Gebietswechsel. Zogg gibt zu Bedenken: «Erobertes Gebiet muss auch gehalten und gegen Gegenschläge gesichert werden.»

Dass der russische Präsident Wladimir Putin (69) die Situation eskalieren lassen könnte, glaubt Zogg nicht. Zogg: «Es ist zwar durchaus denkbar, dass in Moskau und im russischen Generalstab Schock herrscht. Russland wird sich aber vorerst kaum strategisch umorientieren, auch um kein Zeichen eigener Schwäche zu zeigen.»

Auch an einen Einsatz von Nuklearwaffen glaubt Zogg nicht. «Das Thema Atomwaffen wäre unverhältnismässig und kaum zielführend.»

Und was sagen die Russen offiziell über den Kollaps? Moskau spricht von einer «Neuaufstellung» seiner Truppen. Putin hat sich bisher zur Blamage nicht geäussert. Er setzt andere Prioritäten: Am Samstag feierte der russische Präsident den 875. Geburtstag von Moskau – und weihte dabei das mit 104 Metern Durchmesser grösste Riesenrad Europas ein.

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