Russlands Präsident Wladimir Putin (69) wird immer mehr öffentlich kritisiert. Im Staatsfernsehen, das sonst Putin-Propaganda vorbetet, wird plötzlich debattiert.
Es hagelt Kritik am Kriegspräsidenten. So wurde auf dem russischen Staatssender NTW die Polit-Show «Treffpunkt» ausgestrahlt. Darin zu hören: «Seien wir ehrlich. Der gestrige Tag war seit dem Untergang des Kreuzers ‹Moskau› einer der schlimmsten Tage an der Front für uns.» Das äussert Maxim Yusin, Politik-Kommentator der Zeitung «Kommersant».
«Situation ist sehr beängstigend»
Er geht noch weiter und sagt ganz klar: «Die Situation ist sehr beängstigend.» Da es sich jedoch weiter um den russischen Staatssender handelt, fällt der Moderator ihm ins Wort. Trotzdem sagt Yusin: «Ich habe den Eindruck, dass wir auf kaltem Fuss erwischt wurden.»
Die Ukraine hat seit der zweiten Septemberwoche immer mehr Gebiet zurückgewonnen. Die russischen Truppen mussten aus zahlreichen Städten und Dörfern fliehen. Offiziell verkauft Putin dies als Umgruppierung. Experten gehen jedoch von massiven Fortschritten für die Ukraine aus.
Der kremltreue Politikwissenschaftler Alexander Sytin hingegen malt in dem Talk ein düsteres Szenario. Er glaube weiter an einen Sieg Russland, beteuert er. Der Westen und die Ukraine «verstehen es absolut nicht, dass es für Russland keine nicht hinnehmbaren Verluste gibt.»
Selbst Kremltreuer spricht von «Krieg»
Er deutet also an, dass Putin einen grausamen Krieg für Jahre fortführen könnte. Denn auch an eine politische Lösung glaube er nicht. Zudem nutzt Sytin das Wort «Krieg» – wobei dieser in Russland weiter als «Spezialoperation» benannt wird. Wer «Krieg» sagt, kann hart bestraft werden. Vor Wochen war es noch undenkar, dass im Propaganda-TV von Krieg gesprochen würde.
Auch wenn selbst im Russen-TV deutlich zu werden scheint, dass der Krieg in der Ukraine nicht nach Plan verläuft – die Schuld wird nicht beim Kreml-Chef gesucht. In der Talkshow «Treffpunkt» machte der Politiker Boris Nadezhdin nicht Putin, sondern dessen Umfeld für das Desaster verantwortlich.
Putin sei nicht schuld an Verlusten
Er sagt: «Diejenigen, die Präsident Putin überzeugt haben, dass die Spezialoperation effektiv und kurz sein werde, dass wir keine Zivilisten attackieren würden, dass die Kadyrow-Kämpfer schnell für Ordnung sorgen würden – diese Menschen haben uns alle in die Irre geführt.»
Und weiter: «Der Präsident sass ja nicht da und hat sich selbst überlegt, eine Sonderoperation zu starten. Jemand kam zu ihm und hat ihm erzählt, dass die Ukrainer aufgeben, auseinanderlaufen und alle nach Russland kommen werden.»
Fazit: Die Putin-Propagandamaschine quietscht nach fast einem halben Jahr Krieg hier und dort – doch sie läuft vorerst weiter. (euc)