Schon fast fünf Monate dauert der Krieg in der Ukraine. Tausende Soldaten hat der russische Präsident Wladimir Putin (69) in den Kampf geschickt. Doch mittlerweile sinkt die Motivation und die Kampfmoral bei den russischen Soldaten immer mehr. Viele von ihnen kündigen ihre Verträge und wollen so schnell wie möglich nach Hause. Doch so einfach funktioniert es nicht.
17 russische Soldaten, die sich weigern, weiter am Krieg in der Ukraine teilzunehmen und ihren Rücktritt vor drei Wochen eingereicht hatten, werden in der Region Luhansk trotzdem weiter festgehalten. Das sagt Anwalt Andrej Rintschino, Leiter der Rechtsabteilung der Stiftung «Freies Burjatien», im Interview mit dem Portal «Mediazona».
Nach seinen Angaben handelt es sich um Soldaten, die kurzfristige Verträge mit dem russischen Verteidigungsministerium unterzeichnet haben.
Trotz Kündigung wieder an die Front
Mit Verweis auf einen der Soldaten erzählt der Jurist, dass die Männer eine Woche nach ihrer Kündigung erneut an die Front in Luhansk geschickt wurden. «Wir sind hingegangen, obwohl wir keine Ausrüstung hatten», zitiert der Anwalt einen Soldaten. Auf dem Weg dorthin habe das Auto mit den Soldaten eine Panne gehabt und die Männer seien am Strassenrand zurückgelassen worden.
Schliesslich hätten sie beschlossen, auf eigene Faust nach Hause zu reisen, seien aber von der Militärpolizei der russischen Armee in der ukrainischen Stadt Perwomajsk festgenommen worden. Den Soldaten seien ihre Pässe und Militärausweise abgenommen und sie selber in eine Kommandantur in Altschewsk, 40 Kilometer von Luhansk entfernt, gebracht worden. Dort habe man ihnen Matratzen ausgehändigt und sie in einen Raum eingesperrt. Keiner habe ihnen erklärt, warum sie festgehalten werden.
Wie Rintschino festhält, befanden sich unter diesen Eingesperrten in Altschewsk auch Personen, deren Vertrag bereits ausgelaufen war. Mindestens zwei von ihnen stammen aus der sibirischen Republik Tuwa, andere kommen aus Rostow oder Burjatien.
«Sie haben absolut keine Motivation»
Andere Soldaten aus Burjatien hatten in der Zwischenzeit mehr Glück. Die russische Journalistin Alexandra Garmaschapowa sagte im Interview mit Freedom UA-TV, einem Projekt mehrerer ukrainischer TV-Sender, die zusammen rund um die Uhr Nachrichten senden, dass am Wochenende 150 Burjaten wieder nach Hause konnten. Dabei handelt es sich um Soldaten, die ihre Verträge gekündigt haben. Der Weg dahin sei jedoch steinig gewesen. Ende Juni machten die Frauen dieser Männer auf sich in der Öffentlichkeit aufmerksam. Sie forderten, dass ihre Männer – die nicht unmittelbar nach der Vertragskündigung die Ukraine verlassen durften – endlich nach Hause gelassen werden.
Garmaschapowa weist darauf hin, dass obwohl eine Vertragskündigung rechtlich erlaubt sei, es für die Männer in der Realität alles andere als einfach ist, den Krieg zu verlassen. So würden die Kündigungen ignoriert werden oder den Männern werde angedroht, sie wegen Fahnenflucht zu verklagen. «Die Vorgesetzten nutzen die Tatsache aus, dass die Männer – meistens sind das ganz junge Soldaten – absolut keine Ahnung von Gesetzen und ihren Rechten haben.»
Insgesamt spricht Garmaschapowa von rund 500 Soldaten aus der Region, von denen bekannt sei, dass sie keine Lust mehr auf den Krieg haben. «Sie haben absolut keine Motivation.»
Nach Angaben der Journalistin würden sich derzeit besonders in den Regionen mit ethnischen Minderheiten, wie Burjatien, Tuwa oder Kalmückien kleine Widerstandsbewegungen bilden.
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Verwandte motivieren Soldaten zu Vertragskündigung
Auch Tonaufnahmen, die vom ukrainischen Geheimdienst veröffentlicht werden, sollen zeigen, wie die Situation an der Front aus der Sicht der russischen Soldaten aussieht. Zuletzt wurde ein Gespräch publiziert, das zwischen einem unbekannten Soldaten der russischen Armee und seiner Frau stattgefunden haben soll. Wenn er es von der Front ins Hinterland schaffe, werde er schauen, dass er nicht wieder zurückmüsse, sagt der Mann. Die Frau unterstützt ihn in seinem Entscheid und erzählt von anderen Soldaten, die ebenfalls ihre Rapporte eingereicht haben und am Schluss – erfolglos – desertieren mussten.
«Die Kommandeure haben die Soldaten in Lkws verladen und ihnen gesagt, man bringe sie zum Flughafen, damit sie heim können. Stattdessen fuhr man sie aber in Richtung Ukraine.» Die Soldaten hätten gemerkt, dass etwas nicht stimme und seien direkt aus den Fahrzeugen gesprungen. Bevor sie wieder eingefangen wurden, hätten sie es jedoch geschafft, ihre Familien anzurufen und von den Vorfällen zu berichten. Aus dem Gespräch wird nicht klar, ob der nachfolgende Gang der Familien zu den Behörden etwas habe bewirken können oder ob die Männer nach wie vor in der Ukraine stecken.
Die Frau des Soldaten verspricht ihrem Mann aber ebenfalls für Aufruhr mit anderen Soldatenfrauen zu sorgen, wenn man ihn nicht gehen lasse. «Ich weiss nicht, ob das was bringt, aber immerhin ist es besser, als einfach dazusitzen und nichts zu tun.»
In einer anderen Aufnahme des Geheimdienstes, das vor knapp zwei Wochen auf Youtube geladen wurde, soll es sich um ein Gespräch zwischen einem russischen Soldaten und seiner Mutter handeln. Demnach berichtet der junge Mann, dass er zusammen mit weiteren Kameraden die Kündigung eingereicht habe und seither auf den Entscheid warte. «Die Leute hier weigern sich, die Befehle auszuführen», sagt der Mann namens Eduard. Auch die Mutter selbst verspricht, aktiv zu werden und den Behörden Briefe zu schreiben.
Häftlinge werden rekrutiert
Wegen der hohen Verluste an der Front und der Unlust der Soldaten, weiter im Krieg zu kämpfen, muss die Regierung im Kreml zu anderen Mitteln greifen, um für die Armee zu werben. Mittlerweile gibt es Berichte, dass sogar Häftlinge rekrutiert werden.
FSB-Männer und solche, die mit der Wagner-Miliz in Verbindung stehen, besuchen die Strafanstalten und bieten den Männern Einsätze oder Arbeiten zur Wiederherstellung der besetzten ukrainischen Gebiete an, wie die russische NGO «Gulagu.net» berichtete.
Die Häftlinge sollen mit hohen Geldsummen in den Krieg gelockt werden. Für einen Einsatz von einem halben Jahr winken 200'000 Rubel (3100 Franken) und Amnestie. Ausserdem versprechen die Wagner-Männer eine Entschädigung für die Familien in Höhe von fünf Millionen Rubel (78'350 Franken) bei einem Todesfall. Offenbar glauben die Häftlinge, dass sie sowieso nichts zu verlieren haben. Den Angaben von «Gulagu.net» zufolge haben sich rund 300 Gefangene in der südrussischen Republik Adygeja bereiterklärt, sich den Streitkräften anzuschliessen. Und für Geld-Versprechen im schlimmsten Fall auch zu sterben. (man)