Moral sinkt wegen schlechter Versorgung und Waffen-Mangel
Jetzt desertieren auch ukrainische Soldaten

Die ukrainischen Soldaten im Donbass haben die Nase voll. Sie klagen über die miserable Versorgung und schlechte Führung. «Wir sind in den sicheren Tod geschickt worden», sagen sie und schmeissen hin. Mehrere von ihnen wurden nun verhaftet.
Publiziert: 04.06.2022 um 15:06 Uhr
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Aktualisiert: 04.06.2022 um 15:30 Uhr
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Seit über drei Monaten kämpfen die ukrainischen Soldaten gegen die russische Armee. Die Stimmung ist teilweise miserabel. Viele Männer desertieren.
Foto: AFP

Mutig, entschlossen und voller Kampfgeist halten die ukrainischen Soldaten der russischen Armee im Krieg stand. Das Bild der triumphierenden Helden in den Schützengräben wird von der Regierung in Kiew sorgfältig gepflegt und in zahlreichen Videos und Bildern vermittelt.

Allerdings scheinen mittlerweile viele Soldaten keine Lust mehr zu haben, ihr eigenes Leben für die Verteidigung der Heimat zu riskieren. Erste Meldungen über Männer, die desertieren, werden publik. Bisher gab es in den vergangenen Wochen vor allem Berichte über russische Soldaten, die die Befehle ihre Kommandanten verweigerten und gar nicht erst in den Krieg ziehen wollten.

Eine Kartoffel pro Tag

Wie die «Washington Post» berichtet, fühlen sich die ukrainischen Truppen von ihren Vorgesetzten im Stich gelassen. So beklagen sich die Soldaten im Donbass über einen Mangel an Waffen und eine schlechte Versorgung. Teilweise hätten sie bloss eine Kartoffel pro Tag zum Essen gehabt.

Die Stimmung sei teilweise so schlecht, dass die Kämpfer desertieren. «Unser Kommando übernimmt keine Verantwortung», sagte Serhij Lapko, der in Luhansk stationiert war, zur «Washington Post». «Sie nehmen nur die Lorbeeren für unsere Leistungen entgegen. Sie geben uns keine Unterstützung.»

Lapko, sein oberster Leutnant Vitali Chrus und weitere Mitglieder der Kompanie quartieren sich in einem Hotel ein, als sie der Zeitung ein Interview geben. Einige Stunden später werden die Männer festgenommen.

«In den sicheren Tod geschickt worden»

Auch bei den Truppen in Sjewjerodonezk ist die Stimmung im Keller. Seit Mitte Mai kursiert ein Video der 115. Brigade des 3. Bataillons in den sozialen Medien. Die Soldaten erklären, dass sie nicht länger kämpfen werden, weil sie keine geeigneten Waffen hätten und zu wenig Unterstützung, um den russischen Angriffen etwas entgegensetzen zu können. Die Soldaten würden nicht respektiert werden. «Wir sind in den sicheren Tod geschickt worden», sagte ein Soldat, umgeben von seinen Kollegen. «Und wir sind nicht alleine mit dieser Auffassung, wir sind viele.»

«Wir werden in den sicheren Tod geschickt»
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Ukrainer verweigern Kampf:«Wir werden in den sicheren Tod geschickt»

Einige Tage später tauchte ein weiteres Video auf, das andere Armee-Angehörige aus derselben Brigade zeigen soll. Die «Deserteure» werden scharf kritisiert. «Sie dachten wohl, sie seien gekommen, um Ferien zu machen. Deshalb haben sie ihre Positionen nun verlassen», sagt ein Mann, umringt von weiteren Soldaten.

Ungenügend vorbereitet

Viele dieser Männer sind keine professionellen Soldaten, sondern waren vor dem Ausbruch des Krieges gewöhnliche Zivilisten. Serhij Lapko sagt gegenüber der «Washington Post», dass er nach Luhansk geschickt wurde, um dort in der dritten Verteidigungslinie Unterstützung zu leisten. Doch stattdessen landete er an vorderster Front. Lapko, der genauso wie seine Kameraden aus der Westukraine stammt, erzählte, dass er und seine Kameraden AK-47-Gewehre ausgehändigt bekamen. Ihre «Ausbildung» dauerte seinen Angaben zufolge nicht mal eine halbe Stunde. Einige Männer hätten sich gar geweigert, in den Krieg zu ziehen. Daraufhin seien sie festgenommen worden.

Lapko und Chrus haben die Kämpfe in Luhansk erlebt. In den letzten Wochen habe sich die Situation verschlechtert, sagt Chrus. «Wir haben nichts, womit wir arbeiten können. Wir sind hilflos.» Tagelang hätten die Männer in Kellern geschlafen, in denen Ratten herumgelaufen seien.

Der Gouverneur der Region Luhansk, Serhij Gajdaj, gibt zwar zu, dass viele Kämpfer schlecht vorbereitet waren. Gleichzeitig sagt er: «Sie haben genügend medizinisches Material und Essen. Das einzige Problem ist, dass sie nicht bereit sind, zu kämpfen.»

Verluste verschwiegen

Dem widersprechen Lapko und Chrus. Sie hätten trotz der Entbehrungen alles gegeben. «Er und sein Zug haben mehr als 50 russische Soldaten in Nahkämpfen getötet», sagt Lapko über Chrus. Gleichzeitig habe er auch einige Kameraden verloren. Doch die Verluste würden geheim gehalten, um die Moral der Truppen zu schützen. «Im ukrainischen Fernsehen sehen wir, dass es keine Verluste gibt. Das ist nicht wahr», sagte Lapko.

Die meisten Männer haben seiner Meinung nach nicht überlebt, weil Fahrzeuge gefehlt haben, um die Verwundeten zu evakuieren und in Spitäler zu bringen. Einige Tote hätten so verhindert werden können, glauben die Soldaten. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) hatte die eigenen Verluste jüngst auf täglich bis zu 100 Tote und 500 Verletzte beziffert.

Vor seiner Festnahme betonte Lapko gegenüber der Zeitung: «Wir sind bereit zu kämpfen. Wir werden jeden Meter unseres Landes verteidigen – aber mit angemessenen Vorschriften und ohne unrealistische Befehle. Ich habe einen Treueeid auf das ukrainische Volk geschworen. Wir schützen die Ukraine und wir werden niemanden reinlassen, solange wir leben.»

Doch nach der Verhaftung wurde ihm das Kommando entzogen. Er selbst wurde in ein Internierungszentrum gebracht. Er wird der Desertion beschuldigt. Seine Zukunft ist ungewiss. (man)

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