Mit einer überraschenden Gegenoffensive haben die ukrainischen Truppen im Osten ihres Landes innert weniger Tage rund 6000 Quadratkilometer Boden zurückgewonnen. Dazu gehört auch die vor dem Krieg rund 40'000 Einwohner zählende Stadt Isjum in der Oblast Charkiw, die die Russen Ende März eingenommen und völlig zerstört haben.
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Wegen der beschädigten Brücken und Strassen konnte bisher noch kein humanitäres Hilfswerk nach Isjum gelangen. Stanislav Stoikov (32) ist es allerdings am Dienstagabend zusammen mit einem Kollegen gelungen, sich als erste Helfer bis zur Stadt durchzukämpfen. Ziel: sich eine Übersicht verschaffen, wer welche Hilfe braucht und wie man überhaupt bis zur Stadt kommt.
Sein Kollege und er hatten grösste Mühe, bis zur befreiten Stadt vorzudringen. Weil sie steckenblieben, mussten sie ihr Auto von einem ukrainischen Panzer zehn Kilometer über sumpfige Felder ziehen lassen.
Bewohner zitterten
Gegenüber Blick erzählt Stoikov exklusiv, welche schrecklichen Bilder er in Isjum gesehen hat. «Isjum ist eine Apokalypse. Alles ist verwüstet, kein Stein liegt auf dem andern mehr.» Die Einheimischen seien verängstigt und hätten gezittert, als er sie angesprochen habe. Erst als er ihnen die ukrainische Fahne gezeigt habe, seien sie beruhigt gewesen und hätten gesagt: «Gott sei Dank, Sie sind Ukrainer!»
In der Stadt werde nun aufgeräumt. Er habe gesehen, wie die ukrainischen Streitkräfte Leute gefangen hielten, die mit den Russen kollaboriert hatten. «Die Bewohner erzählten mir, was diese Leute den Ukrainern angetan haben und wie sie sie gefoltert haben. Es war der reinste Horror», erzählt Stoikov.
Besatzer unter Drogen
Isjum sei vor allem von bewaffneten Formationen der sogenannten Luhansker und der Donezker Volksrepublik besetzt gewesen. «Die Einheimischen berichteten mir, dass man mit ihnen kaum kommunizieren konnte, weil sie oft unter Drogen standen und Einheimische töteten. Es sind psychisch kranke Menschen, die sich an keine Regel hielten und machten, was sie gerade wollten.»
Auf der Flucht vor den überraschend schnell vorrückenden ukrainischen Truppen hätten die Russen am Wochenende Ausrüstung und Munition – einfach alles – zurückgelassen. Immerhin blieb ihnen noch Zeit genug, um das Gebäude der Stadtverwaltung in Brand zu setzen.
Selenski eingetroffen
Die Bewohner von Isjum litten unter den hohen Preisen. Ein Kilo Zucker kostete wegen der schwierigen Zufahrt umgerechnet vier Franken. «Wir überlegen uns nun, wie wir den Bewohnern der zerstörten Stadt schnell und gut helfen können», sagt Stanislav Stoikov zu Blick. «Auf der einen Seite sind die Brücken zerstört, auf der anderen Seite müssen wir schauen, wie wir Lastwagen über die Felder ziehen können.»
Die Pleite der russischen Armee
Nachdem Stoikov die Stadt bereits wieder verlassen hatte, traf am Mittwochmittag auch Präsident Wolodimir Selenski (44) in Isjum ein, um sich ein Bild zu verschaffen und den Ukrainern Mut zu machen. Er kündigte dabei ein weiteres Vorrücken der ukrainischen Armee an. «Wir bewegen uns nur in eine Richtung – vorwärts und bis zum Sieg.»
Eine der besten Gegenoffensiven
Militärexperten staunen über den Erfolg der ukrainischen Truppen. «Die Befreiung von Isjum wird der grösste militärische Erfolg der Ukraine seit dem Sieg in der Schlacht vor Kiew im März», urteilte das Institute for the Study of the War (ISW) in seiner Lageanalyse am Sonntag.
Und der britische Militärexperte Ed Arnold sprach im Interview mit dem «Spiegel» von einer «Meisterleistung» der Ukrainer: «Dies ist eine der besten Gegenoffensiven seit dem Zweiten Weltkrieg und gleichzeitig ein Wendepunkt des Krieges.» Damit sei der von Russland geplante Vormarsch auf den Donbass von Norden her gescheitert, meinen Experten.