Schon wieder liegen Blumen am Fuss der Säule, auf der die Worte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit prangen. Nicht einmal ein Jahr ist es her, seit Marie Rosen hierhin brachte: für die zwölf Opfer des Terroraktes gegen das Satiremagazin «Charlie Hebdo». Sie wimmert. «Jetzt schon wieder.» Und es mussten noch mehr sterben.
Still senkt die Studentin den Kopf. «Aber die Freiheit, die können sie uns nie nehmen.»
Viele denken in Paris am Tag nach dem Horror vom Freitag, dem 13., was Marie sagt. Zum stillen Ort erstarrt ist die sonst fröhliche Kapitale Frankreichs. Im Schock die so agile Stadt. Sprachlos angesichts von 130 Menschen, die sinnlos starben. Ermordet von islamistischen Terroristen.
Flüssiger als sonst rollt der Verkehr in der Innenstadt. Strassencafés sind kaum besetzt, auch innen bleiben Plätze leer. Pariser sind zu Hause geblieben, Touristen nach Hause gereist. Leer sind die Züge, die in den Bahnhöfen ankommen.
Beim Stade de France, wo in der Nacht zuvor die französischen Fussballer die deutschen Weltmeister 2:0 besiegten, spricht niemand mehr über den Sieg. Sie reden über drei Bomben, die in der Nähe des Stadions explodierten, von der deutschen Elf, welche die Nacht im Stadion verbrachte. Ein einziger Blumenstrauss liegt da. Polizisten bewachen das leere Stadion, wo nächstes Jahr das Eröffnungsspiel und der Final der Fussball-EM gespielt werden sollen. «Irgendwie ist es seltsam, jetzt an Fussball zu denken», sagt ein Passant.
Gross ist der Auflauf beim Bataclan, der famosen Konzerthalle. Am Freitag spielten hier die US-Rocker Eagles of Death Metal auf. Bis Terroristen gegen 100 Menschen töteten. Am nächsten Tag steht der Tour-Bus der Band noch immer da. Ein grosses Stück Plastik ist über den Eingang gespannt. Dahinter identifizieren Gerichtsmediziner die Leichen von Opfern und Tätern. Schaulustige erhaschen einen Blick, knipsen Selfies. Rocker parkieren ihre Töffs vor dem Club, spannen ein Transparent gegen Gewalt auf. Die Polizei lässt sie gewähren. Sie verhält sich zurückhaltend. Gepanzerte Wagen wie auch Soldaten der Armee sind unsichtbar. Kaum einer trägt eine Maschinenpistole. Ernst nimmt Frankreich die Worte ihres Präsidenten, dem Terror zu trotzen, als Gesellschaft aber offen zu bleiben.
Daran ändert nichts, dass ein SonntagsBlick-Reporter von einem Polizisten mit gerichteter Maschinenpistole angehalten wird. «Was tun Sie hier?», fragt der Beamte und verlangt Pass und Presseausweis. Als er den Reporter nicht in der Fahndungsdatenbank findet, lässt er ihn mit einem höflichen «Excusez-moi!» gehen.
Lasch sind die Grenzkontrollen bei der Einreise nach Frankreich. Zwar werden Autos kontrolliert, nicht aber Zugreisende im TGV von Basel nach Paris. Beim Bahnhof Paris Gare de Lyon fehlen Polizisten, die Zugänge zu den Métro-Stationen sind kaum bewacht. Laut ist nur der Polizist, der bei der Place de la République mit Megafon Trauernde auffordert, «wegen der Sicherheit» den Platz zu verlassen. Er verhindert so einen Massenandrang.
Terror in Paris
Ein Bild des Grauens zeigt sich beim Restaurant La Belle Équipe im 11. Arrondissement. Ein regelrechter Kugelhagel prasselte am Freitagabend auf die Gäste nieder. Davon zeugen Dutzende von Einschusslöchern an Schaufenstern und Hauswänden. Die Quartierbewohner sahen, wie die Attentäter mit einem Auto die Rue de Charonne entlangfuhren. Vor dem Belle Équipe stiegen sie aus, eröffneten mit Kalaschnikows das Feuer. Dabei starben 18 Menschen. Dutzende wurden verletzt, einige schwer.
Beim Vornamen nennen sich Personen im Quartier. «Wir sind wie ein kleines Dorf, jeder kennt jeden», sagt Issam (26), er arbeitet im Café Quartier seines Vaters. Eine Bekannte von ihm feierte auf der Terrasse des Belle Équipe ihren 40. Geburtstag. Bis die Terroristen kamen. Issam dachte an ein Feuerwerk, als er die Schüsse hörte. Bis er die Menschen blutüberströmt am Boden liegen sah. «Junge Leute sassen weinend neben ihnen, da wusste ich, sie waren tot», so Issam. Auch seine Bekannte starb. Romain (38) wohnt gegenüber dem Restaurant. «Die Gäste sassen vergnügt auf der beheizten Terrasse, Minuten später lagen sie auf der Strasse – mit grossen Wunden.» Er sah, wie Menschen starben. «Eine Frau schrie ausser sich, ihr Brustkorb war zerfetzt.» Dann hält er inne. «Es sah aus wie im Krieg. Der Schreck und die Trauer erschlagen uns.»
Romain zeigt mit der Hand auf die Einschusslöcher an den Fassaden der Häuser. «Sie haben den ganzen Block mit Bleikugeln durchsiebt.» Wie viele Pariser ist er erschüttert. «Es ist der Wahnsinn!»
Kurz vor 17 Uhr wird es dunkel in Paris. Bei der Place de la République brennen Kerzen. Viele Trauernde hinterlassen handgeschriebene Zettel. «Kein Krieg, kein Terror, weder in Paris noch auf der Welt», schreibt einer. Oder: «Je suis Paris.» Oder: «Wir beten alle.» Einige singen die Marseillaise, die französische Nationalhymne.
Doch nicht alle weinen bei der Place de la République. Drei Halbstarke rennen einem verbeulten Ball hinterher. Und vier Halbwüchsige drehen Runden auf Rollbrettern. Trotzig zeigen sie den Terroristen: Ihr könnt uns attackieren, aber ihr könnt uns nicht nehmen, was ihr nicht habt – Freiheit.