«Ein guter Diktator muss flexibel und talentiert sein»
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Historiker Frank Dikötter:«Ein guter Diktator muss flexibel und talentiert sein»

Der Historiker Frank Dikötter (59) zieht eine direkte Linie von Lenin zu Mussolini und Hitler – aber nicht zu Trump
«Ein guter Diktator muss flexibel und talentiert sein»

Kaum jemand kennt sich mit Diktatoren besser aus als Frank Dikötter. Im BLICK-Interview spricht der Experte über die Gemeinsamkeiten der starken Männer, brutale Frauen – und die gefährlichste Diktatur der Welt.
Publiziert: 25.01.2021 um 11:41 Uhr
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Aktualisiert: 27.01.2021 um 17:45 Uhr
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Der Professor Frank Dikötter forscht zu Diktatoren.
Foto: zVg
Interview: Fabienne Kinzelmann

Hitler, Stalin, Mao – Frank Dikötter kennt sie alle: Die mächtigen Männer der jüngeren Weltgeschichte, die Alleinherrscher und Tyrannen. Über einen will der niederländische Historiker und Chinawissenschaftler aber nicht sprechen: Chinas Staatspräsidenten Xi Jinping (67). Dikötter lebt als Professor in Hongkong, wo gerade erst das «Nationale Sicherheitsgesetz» beschlossen wurde. Wer die Regierung allzu frei kritisiert, dem drohen unfaire Gerichtsverfahren, heftige Strafen – und sogar Folter.

Was ist ein Diktator aus Ihrer Sicht?
Frank Dikötter: Das klingt jetzt vielleicht etwas paradox, aber: Diktatoren gibts nur im Zeitalter der Demokratie. Mit der Französischen Revolution 1789 kam ein neues politisches Prinzip auf, wie man eine Nation organisiert. Erst die Idee, dass das Volk der Souverän ist – und nicht ein Kaiser oder König – und es freie Wahlen und eine Gewaltenteilung gibt, macht aus Regierungs- und Staatsoberhäuptern auch Diktatoren. Denn ein Diktator will ein Machtmonopol. So wie Lenin, der erst die Monarchie stürzte und dann die junge Demokratie kippte, um seine eigene Macht auszubauen.

Lenin war praktisch der Diktatorenprototyp?
Ja, er war die Inspiration für Mussolini und Hitler und viele andere bis zum heutigen Tag. Er ist natürlich ein Marxist, kein Faschist, aber er zeigte, wie wichtig eine Partei auf dem Weg zur Machtergreifung und zum Machterhalt ist. Einfach ausgedrückt: Wenn man eine Partei wie eine Armee führt, kann man seine Macht ausbauen und eine organisierte Revolution von oben starten.

Kann man Ihr Buch «Diktator werden» eigentlich als Anleitung verstehen?
Es ist kein Handbuch, keine Sorge. Aber bei meiner Untersuchung von Diktatoren von London über Haiti bis Äthiopien sieht man sehr gut, dass sie sich sehr ähnlich darin sind, sich an kulturelle, politische und wirtschaftliche Umstände anzupassen. Sie müssen sehr flexibel sein, um ein guter Diktator zu sein. Und sehr talentiert! Etwa darin, Menschen zu manipulieren und zu betrügen.

Muss ein Diktator auch klug sein?
Das ist schwierig zu sagen. Was alle Diktatoren machen: Sie lernen von anderen Diktatoren.

Was unterscheidet denn, sagen wir, Hitler von Kim Jong Un?
Nicht so viel, denke ich. Vermutlich könnten Sie einen Deutschen, der 1936 gelebt hat, nach Nordkorea fliegen, und er würde viel wiedererkennen. Ihm wäre auch klar, wie er sich in dieser Gesellschaft zurechtfände. Ganz zentral ist zum Beispiel Propaganda und Persönlichkeitskult. Damit bekommt ein Diktator es hin, dass ihn die Leute unterstützen, obwohl sie ihn nicht gewählt haben. Wer in einer Diktatur lebt, muss seine Loyalität zum Mann an der Spitze jederzeit zeigen. Er wird Bilder von ihm auf der Weg zur Arbeit sehen, er muss sich vor dessen Statue verbeugen, ihn rezitieren können, seine Genialität und Weisheit selbst in den eigenen vier Wänden preisen.

Gibts in Diktaturen auch mal Frauen an der Spitze?
Ich habe so viel dazu geforscht und tatsächlich keine gefunden. Es gibt in Argentinien vielleicht die ehemalige First Lady Eva Perón und später Isabel Perón, die sogar selbst Präsidentin war, aber die kommen nicht an die Männer ran.

Weil Frauen nicht grausam genug sind?
Nein, weil das männliche Geschlecht das 20. Jahrhundert dominiert und Frauen systematisch unterdrückt hat. Bekämen Frauen die gleichen Chancen wie Männer, könnten sie genauso brutal und gnadenlos sein. Wir haben ein paar Fälle, in denen Frauen dieser Macht sehr nahe kamen – etwa «Madame Mao» in China. Der Ehefrau von Rumäniens Nicolae Ceaușescu wird sogar nachgesagt, dass sie eigentlich das Sagen hatte. Sie wurde die Verantwortliche für die Überprüfung jedes einzelnen Parteimitglieds und hatte so grossen Einfluss. Das ist wahrscheinlich das, was einer Diktatorin im 20. Jahrhundert am nächsten kommt.

Welcher Diktator ist denn aktuell am gefährlichsten?
Ein Regime, das nicht nur ein Machtmonopol hat – sondern tatsächlich annimmt, dass dieses Machtmonopol etwas Gutes ist. Und je grösser das dazugehörige Land ist, desto gefährlicher wird es. Das kann also nur China sein.

War Donald Trump ein Diktator – oder auf dem Weg dahin?
Sagen wir's so: Hitler brauchte eine Weile, um die braune Bevölkerung zu entfesseln und 1933 zum Reichskanzler zu werden. Dann dauerte es aber nur Monate zur völligen Terrorherrschaft. Falls das Trumps Ziel war, hat er ziemlich schlecht abgeschnitten. Es sagt viel mehr über die Leute aus, die Trump einen Diktator nennen, als über Trump selbst. Wir leben in einem Zeitalter, in dem wir dazu neigen, zu vergessen, dass das Leben von Hunderten von Millionen Menschen durch Diktatoren ruiniert wurde. Wenn Sie unter Mao, Stalin oder heute unter Kim Jong Un nur ein negatives Wort sagen, landen Sie im Gefängnis. Gewählte Führer einer etablierten parlamentarischen Demokratie als potenzielle Diktatoren zu bezeichnen, zeigt einen ausserordentlichen Mangel an Perspektive und verharmlost, was in der Vergangenheit so vielen Menschen widerfahren ist.

Aber nimmt eine Diktatur nicht mit kleinen Dingen ihren Anfang – mit der Einschränkung der Pressefreiheit, dem systematischen Aushebeln von demokratischen Regeln und Institutionen?
Was wir in den USA in den vergangenen vier Jahren gesehen haben, war lebhafte Demokratie. Falls Trump wirklich die Demokratie untergraben wollte, hat er einen verdammt schlechten Job gemacht. Diktatoren machen schnell vorwärts, die brauchen für so was ein, zwei Jahre.

Wie wird man einen Diktator wieder los? In Belarus gehen die Menschen jetzt seit Monaten auf die Strasse …
Eine Diktatur basiert immer auf Furcht. Selbst in Diktaturen, die über Jahrzehnte bestehen und wo bestimmte Verhaltensweisen eingebrannt sind, hat jeder tief in seinem Herzen Angst, etwas falsch zu machen. Diese Furcht kann aber urplötzlich verschwinden, wenn der Diktator verschwindet oder schwach erscheint. Das war bei Hitler nach seinem Tod der Fall oder bei Ceaușescu, der bei einer Rede plötzlich realisierte, dass manche Zuschauer ihm nicht applaudieren, sondern ihn anschreien. Bei der TV-Übertragung war gut zu sehen, wie er die Fassung verliert. Das wars. Das war der Startpunkt für die rumänische Revolution 1989, und Ceaușescu und seine Frau wurden erschossen. Es gibt immer diesen Moment in Diktaturen, auch wenn er Jahrzehnte braucht. Aber irgendwann bricht der Bann, und ich glaube, das ist mit Lukaschenko bereits passiert.

Wie sollte die Schweiz mit Diktaturen umgehen?
Die Schweiz hat eine gute Tradition darin, ihre Neutralität zu wahren, selbst in schwierigen historischen Situationen. Das sieht man gut beim Zweiten Weltkrieg. Aber was für die Schweiz wie auch für Europa gilt: Es ist ein Fehler, Diktaturen zu unterschätzen – aber ebenso, sie zu überschätzen. Wir haben die Sowjetunion so lange gefürchtet, und als sie zerfiel, realisierten wir, dass sie praktisch nur eine Fassade war. Die Armee war nicht so stark wie gedacht. Die Wirtschaft nicht. Überhaupt nichts eigentlich. Es wurde vor allem viel Geld und Manpower aufgebracht, um sie stark aussehen zu lassen. Das Gleiche gilt auch heute – egal, ob es um Nordkorea geht oder um China.

Der Diktatoren-Versteher

Der niederländische Historiker und Sinologe Frank Dikötter (59) lebte in seiner Jugend zwölf Jahre in Genf. In seiner Wahlheimat Hongkong, wo er als Professor lehrt und forscht, vermisst er besonders den Schweizer Winter und die Wanderungen in Zermatt VS. Für sein Buch «Diktator werden» hat Dikötter acht bekannte Diktatoren und ihre Wege zur Macht studiert. Aktuell arbeitet er an einem Buch über Chinas vier Jahrzehnte nach Revolutionsführer und Diktator Mao Zedong (1893–1976).

Der niederländische Historiker und Sinologe Frank Dikötter (59) lebte in seiner Jugend zwölf Jahre in Genf. In seiner Wahlheimat Hongkong, wo er als Professor lehrt und forscht, vermisst er besonders den Schweizer Winter und die Wanderungen in Zermatt VS. Für sein Buch «Diktator werden» hat Dikötter acht bekannte Diktatoren und ihre Wege zur Macht studiert. Aktuell arbeitet er an einem Buch über Chinas vier Jahrzehnte nach Revolutionsführer und Diktator Mao Zedong (1893–1976).

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