Ende November erreicht die Welt die vermeintlich schreckliche Nachricht: Südafrikanische Forscher haben eine neue Variante des Coronavirus entdeckt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nennt sie Omikron. Ihre Eigenschaften: Sie ist hoch ansteckend und kann den Impfschutz teilweise umgehen.
Wenige Wochen später beherrscht sie das Pandemie-Geschehen in der Schweiz – und der Bundesrat lockert trotz rekordhoher Ansteckungszahlen die Massnahmen. Was ist da passiert? Blick erklärt die Gründe, warum wir trotz – oder besser: dank – Omikron gerade zu einem Happy End kommen.
Omikron – die milde Variante
«Omikron ist weniger pathogen als seine Vorgänger», sagt Virologe Andreas Cerny (65). Omikron dringt weniger tief in die Lunge ein als die Varianten Alpha oder Delta. Cerny: «Wir sehen eine vergleichsweise geringe Anzahl Fälle auf Intensivstationen oder generell im Krankenhaus.» Das sei der Hauptgrund, wieso sich die Schweiz – und andere Länder – so hohe Fallzahlen leisten könnten.
Studien aus Grossbritannien und Südafrika stützen diese Beobachtungen: Omikron führt etwa 25 Prozent seltener zu schweren Verläufen als Delta.
Der Genfer Virologe Didier Trono sprach im Dezember im Blick vom «Walt-Disney-Szenario»: Omikron beschert Herdenimmunität, ohne fürs Gesundheitssystem gefährlich zu werden. «Eine schöne Geschichte, die zum Träumen anregt», sagte Trono damals. Nun scheint es Realität zu werden!
«Omikron hat die Spielregeln verändert», sagt Andreas Cerny, «weil in kurzer Zeit viele Personen Immunität erlangen.» Die Aufhebung der Quarantäne und der Homeoffice-Pflicht findet der Virologe deshalb richtig.
Steht das Pandemie-Ende nun definitiv bevor? «Das hoffe ich!», sagt Virologe Cerny. Das hänge aber letztlich davon ab, wie gefährlich neue Virusvarianten seien. Denn eines ist für ihn sicher: «Omikron wird nicht die letzte Variante sein.»
Die Impfquote – 91 Prozent! Die Alten halten den Oberarm hin
Die Schweiz galt lange als Impfschnecke. Mittlerweile sind über 70 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer mit mindestens einer Impfdosis versorgt. Das anfangs Pandemie genannte Ziel rund 80 Prozent liegt dennoch in weiter Ferne.
Christoph Berger (59), Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen, ist trotzdem zufrieden mit der bisherigen Impfkampagne: Bei den über 65-Jährigen sind laut Zahlen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) fast 91 Prozent vollständig geimpft. 75 Prozent erhielten auch die Auffrischungsimpfung.
Berger: «Es war immer unser Hauptanliegen, möglichst viele Vulnerable und chronisch Kranke zum Impfen bewegen zu können. Das haben wir geschafft.»
Die Impfung ist die schärfste Waffe in der Pandemie-Bekämpfung. Und auf sie ist Verlass: Im Kanton Zürich etwa sind heute zwei von drei Covid-Patienten auf den Intensivstationen ungeimpft. Dreifach Geimpfte haben das kleinste Risiko, im Spital zu landen.
Omikron hebelt den Impfschutz zwar teilweise aus. «Die Boosterimpfung trägt aber nachweislich dazu bei, dass die Spitalkapazitäten nicht überschritten werden», sagt Berger.
Trotz Lockerungsturbo rät Berger weiterhin, sich impfen zu lassen. Omikron sei nicht vorbei und die Impfung verleihe nach wie vor den besten Schutz vor schweren Verläufen – unabhängig von der Virusvariante.
Die Genesenen – Wer hat noch nicht, wer will noch mal?
Das BAG zählt nach fast zwei Pandemiejahren 2,3 Millionen bestätigte Corona-Fälle und fast 6 Millionen vollständig Geimpfte. Täglich kommen Tausende Fälle und Spritzen dazu. «Um in den Normalmodus zurückzukehren, braucht es eine breite Immunität», sagt Epidemiologe Christian Althaus (43).
Wer nicht geimpft ist, wird sich früher oder später mit dem Omikron-Virus oder einer neuen Variante anstecken und dadurch Immunität entwickeln, «idealerweise ohne schweren Verlauf», so Althaus.
Auch Geimpfte und Geboosterte können sich mit Omikron anstecken. Aber sie haben ein deutlich reduziertes Risiko für einen schweren Verlauf – und belasten dadurch das Gesundheitssystem nur wenig. Zudem zeigt eine deutsche Studie, dass sich die Immunantwort von Geimpften nach einer Infektion noch einmal verbessert.
Derzeit wird der Pandemieverlauf von Infektionswellen geprägt. Das Virus wird bleiben, aber künftig wohl nur noch endemisch, also örtlich und zeitlich begrenzt, auftreten – so wie andere Atemwegskrankheiten. «Ob wir jetzt in eine endemische Phase kommen, können wir vermutlich erst im nächsten Jahr mit Sicherheit sagen», so Althaus.
Zwei Jahre Erfahrung – Entspannung auf der IPS in Sicht
Niemand sieht und spürt das Leid in der Corona-Pandemie so schonungslos wie die Pflegenden auf Intensivstationen. Seit Monaten schieben sie Überstunden und sehen Krankheitsfälle, die zu vermeiden gewesen wären: Die meisten Intensiv-Patienten sind ungeimpft.
Nach monatelangen Verschiebungen von «nicht dringlichen» Operationen gibts jetzt endlich Licht am Ende des Tunnels. «Insgesamt entspannt sich die Situation leicht», schreibt die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin. Insbesondere die Booster-Impfung schütze vor schweren Verläufen. Schweizweit hat sich die Zahl der Neuhospitalisierungen innerhalb von zwei Monaten halbiert.
Das Universitätsspital Zürich beobachtet tendenziell leichtere Omikron-Erkrankungen. Die Variante könne aber vor allem bei Personen mit Vorerkrankungen zu schweren Verläufen führen, sagt Reto Schüpbach (51). Er ist Direktor des Instituts für Intensivmedizin am Universitätsspital Zürich. «Bei Öffnungsschritten dürfte der Anfall von Omikron-bedingten Intensivpatienten aber im Rahmen bleiben», so Schüpbach auf Anfrage von Blick.
Mehr Sorge bereitet ihm, dass Mitarbeitende erkranken könnten. «Die rasche Reduktion der etablierten Massnahmen birgt diesbezüglich Gefahren», sagt der Intensivmediziner.
Lobbyismus – die Macht der Wirtschaftsverbände
«Alle Massnahmen weg, und zwar subito!», forderte eine breite Gewerbler-Allianz letzte Woche an einer Medienkonferenz. «Viele Branchen wie auch die Bevölkerung leiden massiv», argumentierte Gewerbeverbandsdirektor Hans-Ulrich Bigler (63). Ist der Bundesrat vor den Wirtschaftsverbänden eingeknickt?
«Nein», sagt Politologe Claude Longchamp (65) zu Blick. «Der Bundesrat ist doch deutlich weniger weit gegangen als vom Gewerbeverband gefordert.»
Der Bundesrat hat mit der Aufhebung der Quarantäne und Homeoffice-Pflicht zwei der einst wichtigsten Pfeiler der Pandemie-Bekämpfung gekippt. Tatsache ist: Die Abschaffung genau dieser Massnahmen hatte das Gewerbe mit Nachdruck gefordert.
«Der Bundesrat verlagert aber offensichtlich die Gewichtung der Meinungen, die er im Vorfeld seiner Entscheidungen einholt», so Longchamp. Bevor der Bund die Corona-Massnahmen neu setzt, konsultiert er jeweils die Kantone aber auch die Wirtschaftsverbände und die wissenschaftliche Covid-Taskforce.
Was Gesundheitsminister Alain Berset (49) von den jüngsten Warnungen der Taskforce hält, machte er Mitte Januar deutlich. «Mit Prognosen können wir nicht arbeiten. Das haben wir gesehen in den letzten zwei Jahren», sagte er zu SRF.
In die Bresche springen Bigler und Co. «Die Wirtschaftsverbände», so Longchamp, «haben in dieser Phase der Pandemie an Einfluss gewonnen.» Der Politologe nimmt den Bundesrat aber nicht als beeinflussbar wahr: «Er bleibt seinem Mittelweg auch mit seinen jüngsten Entscheidungen treu.»