Die Spitäler drücken den Alarmknopf: Ihre Intensivstationen sind bald überlastet, das Personal am Anschlag. Operationen müssen verschoben werden. Es klingt wie im Frühling 2020, wie im Herbst und Winter.
Fakt ist: Am Donnerstag lagen 686 Personen auf Schweizer Intensivstationen, 275 davon wegen Covid-19 – deutlich mehr als noch vor einem Monat. Über 90 Prozent von ihnen sind ungeimpft. Damit sind die Intensivstationen zu rund 80 Prozent ausgelastet.
Im Frühjahr 2020 waren es über 1500 Betten
Nebst zertifizierten Intensivbetten besteht die Möglichkeit, Ad-hoc-Betten temporär aufzustellen. Diese verfügen nicht in jedem Fall über die gleiche Ausrüstung, und die Behandlungsqualität ist nicht dieselbe. Aber es gibt sie.
Im Frühjahr 2020 standen so über 1500 Betten auf den Intensivstationen, in der zweiten Welle waren es 1100, Ende August nur noch 854. Warum warnen Politiker und Gesundheitsexperten, die Spitalkapazitäten würden knapper, wenn gleichzeitig die Intensivbetten reduziert werden?
«Anfangs war Katastrophenmedizin»
«Am Anfang der Pandemie haben wir für einen Katastrophenmedizin-Einsatz geplant», erklärt Reto Schüpbach (50). Er leitet das Institut für Intensivmedizin am Universitätsspital Zürich. Damals habe man über das Coronavirus nur gewusst, dass es hoch ansteckend ist und tödlich sein kann. Es war die Zeit, als Bilder von überfüllten Spitälern aus China und Norditalien die Schweiz schockten.
Um hier Ähnliches zu verhindern, wurden die Intensivbetten rasch aufgestockt. Aber: «Wir hätten in diesen 1500 Betten die Intensivpatienten niemals in der üblichen Qualität versorgen können», sagt Schüpbach. Das Risiko der Spitäler zahlte sich aus, Szenen wie in der Lombardei wiederholten sich hier nicht.
Das Nadelöhr ist das Personal
Zum Glück: Nur die Hälfte der Intensivbetten war voll. Heute liegt der Auslastungsgrad der Betten bei rund 80 Prozent. Jedes fünfte Bett auf der Intensivstation ist frei. Warum also der Alarm der Spitäler?
Es gehe nicht um die Betten, sondern um das Personal, sagt Reto Schüpbach. «Bei einer hundertprozentigen Auslastung hätten wir die nötigen Fachkräfte nicht, um die Patienten in der geforderten Qualität zu betreuen.» Ausserdem brauche es immer noch einige freie Betten für Notfälle, etwa für Schwerverletzte bei einem Autounfall.
Heute gibt es in der Schweiz rund 160 Spitäler. Eines nach dem anderen schliesst aber seine Türen. Im Kanton St. Gallen etwa haben in diesem Jahr die Spitäler Rorschach und Flawil dichtgemacht. Tönt absurd, mitten in der grössten Gesundheitskrise seit Jahrzehnten.
«Nicht die Anzahl Betten und Beatmungsgeräte sind das Problem, sondern das fehlende Fachpersonal», sagt Philipp Lutz von der Direktion des Kantonsspitals St. Gallen, an das die beiden Regionalspitäler angeschlossen waren. Ein Grossteil der Angestellten der Regionalspitäler arbeitet heute im Kantonsspital. «Und doch ist es ein Kraftakt, genügend Leute aufzutreiben.»
Wie wird die Spitallandschaft der Schweiz künftig aussehen? «Langfristig wird es weniger stationäre Regionalspitäler und mehr ambulante Einrichtungen brauchen», sagt Philip Sommer, Leiter Beratung Gesundheitswesen bei PwC. Fachkräftemangel, Digitalisierung und Spezialisierung der Medizin seien die grössten Treiber der Umstrukturierung. Fabio Giger
Heute gibt es in der Schweiz rund 160 Spitäler. Eines nach dem anderen schliesst aber seine Türen. Im Kanton St. Gallen etwa haben in diesem Jahr die Spitäler Rorschach und Flawil dichtgemacht. Tönt absurd, mitten in der grössten Gesundheitskrise seit Jahrzehnten.
«Nicht die Anzahl Betten und Beatmungsgeräte sind das Problem, sondern das fehlende Fachpersonal», sagt Philipp Lutz von der Direktion des Kantonsspitals St. Gallen, an das die beiden Regionalspitäler angeschlossen waren. Ein Grossteil der Angestellten der Regionalspitäler arbeitet heute im Kantonsspital. «Und doch ist es ein Kraftakt, genügend Leute aufzutreiben.»
Wie wird die Spitallandschaft der Schweiz künftig aussehen? «Langfristig wird es weniger stationäre Regionalspitäler und mehr ambulante Einrichtungen brauchen», sagt Philip Sommer, Leiter Beratung Gesundheitswesen bei PwC. Fachkräftemangel, Digitalisierung und Spezialisierung der Medizin seien die grössten Treiber der Umstrukturierung. Fabio Giger
Eingriffe können nicht ewig aufgeschoben werden
Kommt dazu: Ein Corona-Kranker macht eineinhalb- bis zweimal mehr Arbeit als andere Patienten, wie es beim Kantonsspital Baselland heisst. Ein Nicht-Corona-Patient liegt im Schnitt 1,6 Tage lang auf der Intensivstation, ein Corona-Patient 10 bis 14 Tage!
In Nicht-Corona-Zeiten können die Intensivstationen zudem ihren Alltag besser steuern. Zwar beträgt ihre Auslastung auch 75 Prozent, aber ungefähr ein Drittel der Fälle kommt von Operationen, die nicht dringend notwendig sind. Mit Corona ist dafür kein Platz mehr, die Eingriffe werden wochenlang hinausgezögert. Doch irgendwann können auch Personen, die beispielsweise am Herz oder Hirn operiert werden müssen, nicht mehr warten.
«Man fragt sich, ob es nicht auch anders gegangen wäre»
Darum drücken die Spitäler den Alarmknopf. Darum rufen die Behörden immer wieder zum Impfen auf. Weil es nicht nur das eigene Leben rettet, sondern auch das Leben anderer viel einfacher macht.
Stellt sich da bei den Fachkräften wegen der Ungeimpften Resignation ein? Andreas Zollinger, Co-Direktor des Zürcher Triemli-Spitals, sagt: «Natürlich gibt man bei jedem Patienten immer das Maximum.» Egal, ob dies ein ungeimpfter Corona-Patient ist oder jemand, der am Herzen operiert werden muss. «Aber wenn man dann abends müde heimgeht und den Tag Revue passieren lässt, der auch psychisch so belastend ist, fragt man sich schon, ob es nicht auch anders gegangen wäre.»