Der Fall Sandra Gasser – er hat vor 35 Jahren den Schweizer Sport erschüttert. An der Leichtathletik-WM 1987 in Rom lief die Bernerin über 1500 Meter zu Bronze. Wenige Tage später der Schock: In ihrer Dopingprobe fand man das synthetische Anabolikum Methyltestosteron. Gasser wurde daraufhin für zwei Jahre gesperrt. Ein Urteil, das sie nicht akzeptierte. Sie ging als erste Sportlerin überhaupt dagegen vor, verlor aber den Zivilgerichts-Prozess in London.
Bis heute gibt es viele Ungereimtheiten. So gab es zwischen der A- und der B-Probe beträchtliche Abweichungen, und in den Proben hatte es zu wenig Urin, weil die Kontrolleurin einen Teil davon verschüttete. So viel ist klar: Heute würde eine Athletin in der gleichen Situation wegen Verfahrensfehler freigesprochen.
Doch Gasser sagt: «Ich stecke trotzdem bis heute bei vielen in der Doping-Schublade.»
Frau Gasser, Sie sind gelernte Filmcutterin. Was wäre ein passender Filmtitel über Ihr bisheriges Leben?
Das ist eine gute Frage. So spontan fällt mir aber keiner ein.
Ich hätte ein paar Vorschläge: Der Prozess.
Das ist mir zu einseitig und zu kurzgefasst.
Der Untergang.
(Lacht) Niemals!
Catch Me If You Can.
Nein, schon des Englischen wegen.
Eine Frage der Ehre.
Der würde zu mir passen, da mir das schon sehr wichtig ist.
Ehre und Respekt – wurde Ihnen das von der Familie mitgegeben?
Das kann schon sein.
Wie sind Sie aufgewachsen?
Sehr behütet. Bei uns war Gerechtigkeit sehr hoch angesiedelt. Für meinen Papi waren alle genau gleich, egal ob er ein Arzt war oder ein Strassenarbeiter.
Ihr Vater Alexander musste früh einen Schicksalsschlag verdauen.
Als er 19 war, wollte er in Neuenburg auf ein Tram springen. Dabei geriet er unter das Tram und verlor ein Bein. Trotzdem hat er nie damit gehadert und war immer gut gelaunt. Als er deswegen im Spital war, musste er den Besuch trösten, weil die das so schlimm fanden. Er hat mir immer gesagt: «Schau noch vorne und verlier nicht zuviel Zeit im Zurückblicken.»
Und wie war Ihre Mutter Hedy?
Sie ging in Engelberg in die Klosterschule. Das war ihr alles viel zu eng. Als sie alt genug war, «flüchtete» sie nach Bern. Das hat mein Mami geprägt. Sie hat immer darauf geachtet, was die Leute sagen. Wir durften zum Beispiel am Sonntag nicht draussen spielen. Man hätte sonst ja meinen können, wir würden vernachlässigt.
Die Bernerin war in den 80er-Jahren auf der Mittelstrecke Weltklasse. 1987 wurde sie Hallen-Europameisterin (1500 m). Nach ihrer zweijährigen Sperre kehrte sie noch einmal zurück und gewann unter anderem 1990 EM-Bronze über 1500 m. 1997 trat sie zurück.
Sie arbeitet bis heute beim ST Bern als Vereinstrainerin. Zusammen mit ihrem Ehemann und ehemaligen Trainer Beat Aeschbacher hat sie eine Tochter: die 24-jährige Oksana. «Sie ist grad am Ausziehen. Ich bin zwar parat, trotzdem wird sie mir fehlen, wenn sie nicht mehr bei uns wohnt.»
Die Bernerin war in den 80er-Jahren auf der Mittelstrecke Weltklasse. 1987 wurde sie Hallen-Europameisterin (1500 m). Nach ihrer zweijährigen Sperre kehrte sie noch einmal zurück und gewann unter anderem 1990 EM-Bronze über 1500 m. 1997 trat sie zurück.
Sie arbeitet bis heute beim ST Bern als Vereinstrainerin. Zusammen mit ihrem Ehemann und ehemaligen Trainer Beat Aeschbacher hat sie eine Tochter: die 24-jährige Oksana. «Sie ist grad am Ausziehen. Ich bin zwar parat, trotzdem wird sie mir fehlen, wenn sie nicht mehr bei uns wohnt.»
War Sport im Hause Gasser ein Thema?
Nein, nie. Doch ich war schon immer ein Bewegungsmensch. Im Meienegg-Quartier in Bümpliz, wo ich aufwuchs, hatte es immer viele Kinder. Deshalb war es mir nie langweilig. Als ich etwa elf Jahre alt war, fiel meinem Nachbar auf, dass ich gerne rannte. Dadurch kam ich zum ST Bern.
Ist es Zufall, dass Sie Einzelsportlerin wurden?
Nein, ich war nie der Mannschaftstyp. In der Schule ging ich ins Volleyball. Ich habe mich immer genervt, wenn sich die Anderen keine Mühe gaben, während ich Vollgas gab.
Waren Sie ein pflegeleichtes Kind?
Wenn mein Mami heute noch hier sitzen könnte, würde sie Ja sagen. Für mich war ein Nein immer ein Nein. Ich habe auch nie pubertiert, weil ich in der Phase schon meinen Sport hatte, der mich ausgefüllt hat. Und mit 15 lernte ich ja bereits meinen späteren Mann Beat kennen.
Sie feierten dann schnell grosse Erfolge. Sie haben mal gesagt, dass Sie vor grossen Rennen immer Horrorträume hatten.
Es ging in diesen Träumen immer darum, dass ich zu spät dran war und deshalb nicht starten durfte.
Hatten Sie in der Nacht auf den 5. September 1987 auch einen solchen Traum?
Das weiss ich nicht mehr. Ich kann mich aber noch daran erinnern, dass Cornelia Bürki und ich das Zimmer teilten und wir beide nicht schlafen konnten.
Am Tag darauf gewannen Sie an der WM in Rom über 1500 Meter Bronze. Es war die erste WM-Medaille einer Schweizer Frau.
Ich war baff, auch wenn ich im Vorfeld wusste, dass eine Medaille nicht unrealistisch war. Während der Siegerehrung musste ich dann natürlich «grännen». Zuvor fand ich es immer furchtbar, wenn auf dem Podest alle weinten. Mich haben immer die beeindruckt, die nicht weinten.
Die Freude hielt nicht lange an. Wie erfuhren Sie von Ihrer positiven Dopingprobe?
Eine Woche später startete ich am Grand-Prix-Final in Brüssel. Da rief mich Hansjörg Wirz an, der damalige Direktor des Schweizerischen Leichtathletikverbands. Er meinte, wir müssten nach meiner Rückkehr in die Schweiz miteinander reden. Zuerst dachte ich, es gehe um Sponsorenverträge.
Wie ging es weiter?
Wir trafen uns dann auf der Autobahnraststätte Würenlos. Dort sagte er mir, dass meine Probe von Rom positiv sei. Ich war zuerst gar nicht geschockt, weil ich davon überzeugt war, dass das nicht stimmen konnte. Als er dann aber sagte, dass dem so sei, habe ich natürlich geweint. Danach habe ich als erstes meine Eltern angerufen. Auch sie konnten es nicht glauben.
Wie waren die ersten Tage danach?
Ich stürzte in eine tiefe Lebenskrise und zerfloss im Selbstmitleid, war tagelang nur noch zuhause und habe permanent geweint und geschrien. Ich habe mich als Opfer gefühlt. Doch dadurch kam ich keinen Schritt weiter. Irgendwann habe ich erkannt, dass ich mich wehren muss.
Wie ging das?
Ich gab unzählige Interviews, weil ich meine Sicht der Dinge darlegen wollte. Ich wäre damals am liebsten von Tür zu Tür gegangen und hätte allen gesagt: «Schaut in meine Augen. Seht doch, ich sage die Wahrheit.»
Ging Ihr Plan auf?
Natürlich nicht bei allen. Das war schon sehr naiv von mir. Irgendwann kam der nächste Schritt. Ich sagte mir: Es ist mir wurst, was die anderen von mir denken, ich gehe einfach meinen Weg. Das war nicht mutig, ich hatte gar keine andere Wahl und so wurde es mir auch von meinen Eltern beigebracht. Wehre dich, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Ein Satz meines Vaters war jeweils: «Wenn dir jemand einen Chlapf gibt, dann gib zwei zurück.» Er hatte damit nicht unrecht.
Sie gingen auch mit einem Teil der Journalisten nicht unzimperlich um. Mit manchen reden Sie seit 35 Jahren nicht mehr.
Ich habe vieles nicht vergessen. Und mir war es damals wichtig, dass ich Leute auf die Abschussliste setzte und nicht umgekehrt.
Klingt nach einem sturen Kopf.
Ja, das kann ich schon sein. Wie Sie ja gesagt haben, es ist eine Frage der Ehre. Wenn ich im Stolz verletzt werde, wehre ich mich eben.
Sie haben sich schliesslich vor Gericht gewehrt – und nicht Recht bekommen. Wie viel hat Sie das gekostet?
Etwa 100'000 Franken. Ich habe aber keine Sekunde ans Geld gedacht. Ich bin froh, dass ich diesen Weg ging, denn der war für meine Persönlichkeitsbildung ganz wichtig.
Können Sie das konkretisieren?
Über dem Gericht stand «Gott und deine Gerechtigkeit». In dieser Zeit fand ich fast zu Gott. Als ich den Prozess trotzdem verlor, merkte ich: Ich muss auf mich schauen und meinen Weg gehen. Es geht halt nicht immer gerecht zu auf dieser Welt. Ich habe dann gelernt, das zu akzeptieren und loszulassen. Weitergehen, vorwärts schauen.
Das Ganze liegt jetzt 35 Jahre zurück. Es gibt einige Theorien, was damals wirklich passiert ist. Eine lautet: Sie sind eine Lügnerin und haben wissentlich gedopt!
Ja, auch diese Meinung gibt es. Sie ist aber komplett falsch. Hätte ich gedopt, hätte ich es schon längst zugegeben.
Manche munkelten, Ihr Mann und Trainer Beat Aeschbacher habe Sie unwissentlich gedopt, weil er von Ehrgeiz zerfressen war.
Ein völliger Quatsch, das wäre ja völlig dumm von ihm gewesen und Beat ist definitiv nicht dumm. Er ist der Sohn eines Polizisten und der korrekteste Mensch, den ich kenne.
Dritte Theorie: Eine Gegnerin hat Ihnen unwissentlich etwas in ein Getränk geschüttet.
Das habe ich mir damals auch überlegt und daran sind sogar Freundschaften zerbrochen.
Welche Erklärung ist für Sie die plausibelste?
Ich glaube, es war gar nicht meine Probe. Zudem wurde die Probe falsch analysiert, weil die Urinmenge zu gering war. Das italienische Labor merkte das und musste den Fall danach so biegen, dass sie fein raus waren. Dass ich dabei geopfert wurde, war Ihnen egal.
Sie hatten Ihre persönliche Bestzeit von 1986 auf 87 um fast zwölf Sekunden verbessert. Können Sie verstehen, dass deshalb Zweifel aufkamen?
Ja, aber dabei vergisst man einfach, dass ich in der Zeit zum Profi wurde. 1986 verpasste ich an der EM in Stuttgart über 3000 Meter den Final. Auf dem Auslaufplatz warf ich dann meine Spikes weg und dachte mir: Entweder ich höre auf oder ich mache es ab jetzt richtig. Zuvor hatte ich ja immer noch gearbeitet. Ich setzte danach voll auf den Sport. Als ich 1987 mit den Deutschen mittrainieren durfte, sagte mir ein Arzt: «Anhand deiner Laktattests weiss ich, dass du in diesem Jahr die 1500 Meter um 4 Minuten laufen wirst.» Ich habe zuerst gelacht …
… doch genau so kam es dann an der WM in Rom.
Werde ich heute von Athleten gefragt, was meine Bestzeit war, sage ich: 3:59,90. Du findest zwar diese Zeit in den offiziellen Listen nirgends mehr, trotzdem ist das meine Zeit, die ich ehrlich erlaufen habe.
Ihr Fall zeigt das ganze Dilemma auf: Wie weiss man als Zuschauer, ob eine Athletin schuldig oder unschuldig ist?
Es ist eine Vertrauens- und Glaubensfrage. Die einen glauben mir, die anderen nicht. Wenn jemand meinen Worten nicht glaubt, dann will ich mit der Person nichts mehr zu tun haben, denn das Vertrauen ist die Basis von allem.
Haben Sie zum Beispiel Dieter Baumann seine Zahnpasta-Theorie abgenommen?
Dieter ist ein Freund von mir und ein echter Naturbursche. Der hätte nie wissentlich gedopt. Es ist wirklich möglich, unschuldig verurteilt zu werden.
Dann nehmen wir das Beispiel Marion Jones. Sie hat unter Eid im Gerichtssaal ausgesagt, nie gedopt zu haben. Später wurde sie der Lüge überführt.
Das hat mich am meisten genervt. Wegen solchen Sportlerinnen gibt es viele Menschen, die dann Leuten wie mir nicht glauben.
Was auffällt: In der Zeit Ihres Dopingfalls fingen Sie an, Ihre Haare bunt zu färben. Ein Zufall?
Nein, ich wollte damals anecken, unangepasst und nicht mehr das nette Mädchen von nebenan sein. Mittlerweile bin ich aber eher zu den Pastell-Tönen gewechselt.
Sie werden Ende Juli 60 Jahre alt. Was macht diese Zahl mit Ihnen?
Sie stinkt mir, denn sie zeigt, dass man sich dem Ende nähert und man sich der Endlichkeit bewusst werden muss. 60 klingt nach alt, und niemand will alt sein.
Haben Sie noch Träume?
Ich hatte nie Träume oder Ziele, weil ich immer im Jetzt leben möchte.
Haben Sie die Hoffnung, dass der Fall Gasser noch gelöst wird?
Nein! Die, die die Wahrheit hätten sagen können, sind alle tot. Es wird nichts mehr kommen, damit muss ich einfach leben.
Schmerzt das?
Ja, dass ich in vielen Köpfen noch in der Doping-Schublade stecke, schmerzt noch immer.
Stimmt es, dass Sie Ihre WM-Medaille bis heute nicht zurückgeben mussten?
Ja, ich habe damit gerechnet, dass die IAAF die Medaille zurückverlangen wird. Doch bis heute tauchte niemand bei mir auf. Sogar die Prozesskosten der Gegenpartei wurden mir nicht in Rechnung gestellt. Das sagt für mich alles aus!