Hockey-Legende Marcel Jenni
«Ich bin froh, dass ich überlebt habe»

Früher war Marcel Jenni (47) ein wilder Mann, der gerne feierte, rebellierte und aufbegehrte. Heute sagt er: «Ich war ein Suchender. Die tiefen Abgründe haben mich fasziniert.»
Publiziert: 23.12.2021 um 07:00 Uhr
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Aktualisiert: 28.01.2022 um 10:08 Uhr
  • «Ich sah seine Panik in den Augen»
  • «Ich habe die ganze Zeit rebelliert»
  • «Ich war ein Suchender»
  • «Die tiefen Abgründe haben mich fasziniert»
  • «Ich spürte meine Beine nicht mehr»
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Heute sagt Marcel Jenni: «Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich einen Menschen, der voll im Leben steht und der Ja zum Leben sagt.»
Foto: BENJAMIN SOLAND
Daniel Leu (Interview) und Benjamin Soland (Fotos)

Herr Jenni, Sie sind heute U18-Nationaltrainer. Gibts in Ihrem Team einen jungen Spieler Marke Marcel Jenni?
Marcel Jenni: (Lacht) Sie meinen einen solch verrückten, leidenschaftlichen Spieler und Typen, wie ich es in dem Alter war?

Genau!
Nein, den gibt es nicht. Die Zeiten haben sich halt geändert.

Was ist heute anders?
Es prasselt so viel auf die Jungen ein. Eltern, Agenten, Lehrer, Trainer und so weiter – alle reden ihnen etwas ein und sagen ihnen, was gut für sie ist. Das darfst du nicht! Das musst du! Mein Wunsch ist es, dass sie mehr auf sich selbst hören und auch mal was unerwartetes Verrücktes machen. Und vor allem sollen sie sagen, was sie wirklich denken und fühlen. Nur so können sie ihr volles Potenzial erkennen und ausschöpfen.

Wie war er denn, der junge Marcel Jenni?
Auf der Suche, wie es sich für einen klassischen Teenager gehört. Ich fühlte mich unwohl in meinem Körper und fand mich generell nicht so lässig. Hinzu kam ein Lehrer, der mich ständig runtergeputzt hat und der mir sagte, was ich alles nicht kann. Das war natürlich nicht förderlich fürs Selbstvertrauen. Als Jugendlicher hast du zugespitzt nur zwei Möglichkeiten: Entweder du gehst unter oder du überlebst. Ich habe mich für das Zweite entscheiden. Halt gab mir dabei sicherlich das Hockey.

Marcel Jenni (47)

GC, Lugano, Färjestad, Kloten: In 23 Profijahren spielte der Zürcher nur für vier Klubs. Mit GC stieg er einst in die NLB auf, mit Lugano (1999) und Färjestad (2002) wurde er Meister.

Für die Nati nahm er an zehn Weltmeisterschaften und zwei Olympischen Spielen teil. Unvergessen sein Auftritt an der Heim-WM 1998. Auch dank seiner Tore schaffte es die Schweiz bis in den Halbfinal.

Nach seinem Rücktritt 2015 wurde Jenni Trainer. Seit 2020 coacht er die Schweizer U18-Nationalmannschaft. Er ist geschieden und zweifacher Vater.

GC, Lugano, Färjestad, Kloten: In 23 Profijahren spielte der Zürcher nur für vier Klubs. Mit GC stieg er einst in die NLB auf, mit Lugano (1999) und Färjestad (2002) wurde er Meister.

Für die Nati nahm er an zehn Weltmeisterschaften und zwei Olympischen Spielen teil. Unvergessen sein Auftritt an der Heim-WM 1998. Auch dank seiner Tore schaffte es die Schweiz bis in den Halbfinal.

Nach seinem Rücktritt 2015 wurde Jenni Trainer. Seit 2020 coacht er die Schweizer U18-Nationalmannschaft. Er ist geschieden und zweifacher Vater.

Sie wechselten mit 19 von GC ins Tessin zum «Grande Lugano». Wie war das damals?
Ich war ein wilder Hitzkopf, ein junger Mann mit einer wilden Frisur, der in der Zeit auch gerne mit seinen Freunden um die Häuser zog. Ich hatte damals nicht wirklich einen Plan und wollte einfach nur Hockey spielen. Mir wurde dann gleich eine Viereinhalbzimmerwohnung zur Verfügung gestellt, unter anderem mit einem Wasserbett drin und mit Blick über ganz Lugano. Ausserdem erhielt ich ein Ford-Escort-Cabriolet.

Waren Sie überfordert mit Ihrem neuen, luxuriösen Leben?
Mit dem Cabriolet schon (lacht). Ich wusste ja nicht, dass es für das Herunterlassen des Dachs einen Knopf gibt. Also versuchte ich es mit Gewalt. Das war keine gute Idee.

Ihr damaliger Trainer, der legendäre Schwede John Slettvoll, sagte mal: «Manchmal ging ich zu Marcel nach Hause, um ihn zum Aufräumen seiner chaotischen Wohnung zu bewegen.» War es so schlimm?
Das ist natürlich Ansichtssache, aber ja, mir war zum Beispiel lange nicht klar, wie diese Waschmaschine eigentlich funktioniert. Für mich war halt vieles neu. Ich habe in der Zeit viel von Slettvoll gelernt. Er hat sich gut um mich gekümmert, mir Strukturen beigebracht und einige Werkzeuge fürs Leben mitgegeben. Eine Basis, auf die ich später während meiner ganzen Karriere zurückgreifen konnte.

Sie haben während Ihrer Lugano-Zeit oft auch für Negativschlagzeilen gesorgt. Sei es mit einem Autounfall oder mit Touren durchs nächtliche Lugano.
Ich hatte damals die Balance noch nicht. Ich wusste gar nicht, wie man dieses Wort schrieb. Also gab es neben den Hochs und den Tiefs oft ein viertes Drittel.

Warum?
Ich wollte das Leben geniessen. Das war meine Art, all diese Emotionen, die es gab, zu verarbeiten. Also ging ich raus und feierte überschwänglich. Das war nicht nur schlecht. Heute heisst es immer: das nächste Spiel, das nächste Spiel. Deshalb wird viel zu wenig gefeiert. Siege muss man feiern. Damit meine ich nicht einfach nur saufen, sondern, dass man sich seiner Entwicklung und Erfolge bewusst ist. Wobei: Auch Niederlagen haben mich nicht daran gehindert loszuziehen (lacht).

Ihr späterer Lugano-Trainer Jim Koleff soll gar einen Überwachungsdienst installiert haben. Wie sah dieser aus?
Der damalige Sportchef Beat Kaufmann ging in die Bars und schaute, welche Spieler sich dort rumtrieben und was sie tranken. Doch wir waren clever genug. Die Bar-Mitarbeiter warnten uns jeweils rechtzeitig vor ihnen und stellten uns ein Glas Milch auf den Platz, wenn sie kamen.

1995 lernten Sie die Schattenseiten Ihres Sports kennen. Ihr Teamkollege Pat Schafhauser verunfallte schwer und sitzt seitdem im Rollstuhl.
Ich stand damals mit auf dem Eis. Als er am Boden lag, ging ich sofort zu ihm hin und bückte mich. Er schaute mich an und sagte: «Ich kann meine Beine nicht mehr fühlen.» Dabei sah ich seine Panik in den Augen. Ich hatte einen Riesenschock. Dieses Ereignis hat grosse Teile meiner Karriere geprägt.

Wieso?
Ich hatte in den nächsten Monaten Schiss, dass auch mir das passieren könnte. Schon bevor jeweils das Spiel losging, fingen die Gedanken an zu kreisen. Im Spiel selbst zog ich dann immer zurück. Doch wenn du das machst, wird es richtig gefährlich. Ich musste daher lernen, diese Angst zu transformieren.

Wie haben Sie das hingekriegt?
Auch mithilfe eines Therapeuten. Die Angst ist ja ein natürlicher Schutz. Man muss sie zulassen. Gelingt einem das, ist sie ein wunderbares Werkzeug, um den Fokus zu schärfen. Trotzdem hat mich das Schicksal von Pat lange beschäftigt. Er war ein Super-Typ, 23, voll im Saft, kurz vor der Heirat, megazufrieden. Und dann macht es plötzlich bum! Und das Leben zeigt dir einen neuen Weg, den du annehmen musst. Du hast ja gar keine andere Wahl. Schon damals dachte ich für mich: Das Leben ist nicht ewig. Ich kann morgen sterben. Das war so ein Moment, wo ich Ja zum Leben sagen konnte, mit allem, was dazugehört.

Ihre Zeit in Lugano endete abrupt. Sie wurden entlassen.
Sagen wir es so: Ich war nicht strategisch smart. Ich habe die ganze Zeit rebelliert, weil aus meiner Sicht vieles falsch lief. Es gab Grüppchenbildung, in meinen Augen war alles eine Riesenmafia, eine grosse Verschwörung. Das alles ging mir tierisch auf den Senkel. Das habe ich so auch Jim Koleff mitgeteilt. Der fand das aber gar nicht witzig.

Sie wechselten dann mitten in der Saison nach Schweden. War das eine Flucht oder eine Befreiung?
Es war vor allem der Startschuss in ein neues Leben. In Lugano war alles hektisch, und dann kam ich in Karlstad bei Färjestad an. Alles gemütlich, alles megafreundliche, respektvolle Leute.

Sie hatten dann auch gleich Erfolg. Doch dann kamen Sie plötzlich auf die Idee, eine Saftkur zu machen.
Ich war halt ein Suchender. Die tiefen Abgründe und die vielen Facetten im Leben haben mich interessiert. Im Sommer nach meinem ersten Schweden-Halbjahr ging ich heim. Alles war super, ich war Playoff-Topskorer und der NHL-Klub Atlanta hatte Interesse an mir. Ein paar Freunde erzählten mir dann von ihrer Saftkur und wie gut es ihnen seitdem ginge. Also dachte ich: Das mache ich jetzt auch.

War das eine gute Idee?
Nein, aus der Sicht eines Hockeyspielers habe ich alles falsch gemacht, was man falsch machen kann. Doch zuerst war alles super. Ich habe mich drei Monate lang nur von Säften ernährt, stellte mein Training komplett um und nahm zwölf Kilo ab. Ich habe mich megagut gefühlt, mein ganzer Körper hatte sich super regeneriert, ich hatte eine wunderbare Haut und brauchte nur noch vier Stunden Schlaf. Doch dann ging es das erste Mal wieder aufs Eis.

Wie wars?
Ich dachte, ich werde unglaublich abgehen. Doch alles war weg. Mein Speed, meine Standfestigkeit, mein Durchsetzungsvermögen. Da merkte ich: Scheisse, das war nicht gut. Jetzt braucht es eine Planänderung. Ich stellte wieder meine Ernährung um. Burger, Pizza, egal, Hauptsache essen und an Gewicht zulegen. Das bedeutete, dass ich im Kraftraum auch mal abends bis 23 Uhr Extra-Einheiten einlegte. Es hat Monate gedauert, um wieder einigermassen auf mein früheres Niveau zu kommen.

2002 kam es zum legendären «Bierskandal von Salt Lake City», als Sie und Reto von Arx von Trainer Ralph Krueger nach Hause geschickt wurden. Jetzt können Sie es ja verraten, was war damals genau los?
Da ist einiges schiefgelaufen. Fragen Sie mich einfach nicht, was, denn ich habe bis heute keine Ahnung, was da alles im Hintergrund gelaufen ist und wie es so weit kommen konnte. Sportlich war das natürlich eine grosse Enttäuschung. Die konnten wir vier Jahre später in Turin mit Ralph Krueger korrigieren, als wir sogar die kanadischen Stars besiegten.

So leicht kommen Sie mir nicht davon. Zurück nach Salt Lake City 2002 …
Ach ja, da war doch was (lacht). Es stimmt, Arxi und ich gingen raus, tranken ein paar Bierchen und spielten Billard. Dann kehrten wir zurück ins Hotel und gingen schlafen. Am Morgen danach hiess es plötzlich: «Ihr müsst nach Hause gehen.» Ich wusste nicht mal, dass es nicht erlaubt war. Ich habe wohl nicht gut zugehört. Das war es. Mehr gibt es nicht zu sagen.

2005 kehrten Sie von Schweden in die Schweiz zurück, nach Kloten. 2008 sorgten Sie mit einer weissen Fahne für Wirbel.
Ich erhielt damals eine Zwei-Minuten-Strafe, die in meinen Augen ungerecht war. Ich war deshalb so richtig stinkig. Also nahm ich so ein weisses Tüchlein auf der Strafbank, band es um den Stock und hisste die weisse Fahne. Das kam mässig an. Der Schiedsrichter sprach eine Spieldauerdisziplinarstrafe aus, und ich wurde später zusätzlich noch mit 1500 Franken Busse bestraft.

Deutlich weniger lustig war es sechs Jahre später. Welche Erinnerungen haben Sie an den verhängnisvollen Moment im Oktober 2014?
Ich wollte einen Check machen, bin dann leicht gestolpert und in die Bande gekracht. Dort hat es mich richtig zusammengelegt. Zuerst ging es noch, doch in der Garderobe bekam ich auf einmal richtig Angst. Es hat überall «chrüselet», und ich spürte meine Beine nicht mehr richtig. Ich konnte nicht mal mehr richtig schnaufen, so eine Panikattacke hatte ich.

Wie viel Glück hatten Sie?
Sehr viel. Mir hat es damals den Brustwirbel verschoben. Ich hatte zwar zuvor schon schlimmere Unfälle, aber dieser war eben der eine zu viel, da ich zu dem Zeitpunkt schon 40 war. Trotzdem bin ich relativ glimpflich davongekommen. Ich bin dankbar, dass ich heute wieder so fit bin.

Was Sie damals noch nicht wissen konnten: Mit diesem Unfall endete auch Ihre Karriere.
Ganz ehrlich: Ich bin froh, dass ich es überlebt habe und glücklich, dass ich solange Hockey spielen konnte. Ich habe es geliebt. Ich habe danach gegen zwei Jahre gebraucht, bis mein Körper und damit auch mein Geist wieder in der Balance waren.

Gegen den Schluss haben Sie noch die Chance auf ein Geständnis. Sie haben über 1000 Profispiele absolviert. Standen Sie mal alkoholisiert auf dem Eis?
«Play guilty?» Ich doch nie!

Und wie lautet die ehrliche Antwort?
Vielleicht kam es schon mal vor, dass ich vom Vorabend noch einen leichten Hangover hatte …

Letzte Frage: Was sehen Sie, wenn Sie heute in den Spiegel schauen?
Ich sehe einen Menschen, der voll im Leben steht und der Ja zum Leben sagt. Ich suche nicht mehr. Ich habe es gefunden. Ich bin so glücklich und zufrieden, dass ich mindestens 100 werden möchte.

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