Wer wissen möchte, wie lange die Pandemie uns schon drangsaliert, der muss sich nur Stephan Lehmann anschauen. Seine langen, grauen Haare – sie sind das Resultat davon. «Seit Corona war ich nicht mehr beim Coiffeur», erzählt der 57-Jährige und lacht.
Im Gespräch zeigt sich der ehemalige Nati-Goalie aber auch von seiner nachdenklichen Seite. Seit seinem Rauswurf in Cham im August 2020 ist er arbeitslos. Eine schwierige Situation für den einstigen Publikumsliebling.
Herr Lehmann, Sie sind seit knapp einem Jahr ohne Job. Wie gehen Sie mit dieser Situation um?
Stephan Lehmann: Das ist nicht einfach für mich. Ich würde sehr gerne wieder als Goalie-Trainer arbeiten. Und zwar lieber heute als morgen.
Gehen Sie stempeln?
Ja.
Fällt Ihnen das schwer?
So ist das Leben. Es geht leider vielen so. Natürlich ist es frustrierend, wenn man Hunderte von Bewerbungen schreibt und nur Absagen bekommt. Mittlerweile habe ich aber gelernt, das nicht persönlich zu nehmen.
Sind Sie schwer vermittelbar?
In meinem ganzen Leben hat sich alles um den Fussball gedreht. Ich habe zwar einst das KV gemacht, doch damals hat man noch mit Schreibmaschinen gearbeitet. Jetzt bin ich mit meinen 57 Jahren in einem schwierigen Alter.
Haben Sie Zukunftsängste?
Manchmal schon. Ich würde meinen Lebensabend gerne in der Schweiz verbringen, weiss aber nicht, ob das finanziell mal möglich sein wird.
Warum? Sie haben doch während Ihrer Karriere gutes Geld verdient. 1994 hat CC die Monatslöhne seiner Sion-Spieler in der Zeitung veröffentlicht. Bei Ihnen stand: Stephan Lehmann 20’500 Franken.
Die Zahlen waren falsch.
Haben Sie weniger verdient?
Nein, mehr. Dass CC die Zahlen veröffentlicht hat, war nicht die feine Art.
Wo ist das Geld hin?
Das ganze Geld ist leider weg, weil ich halt im Leben auch mal die eine oder andere falsche Entscheidung getroffen habe. Wenn ich schaue, was ich ab 65 Jahren bekommen werde, sieht es nicht gut aus, denn die Klubs haben jeweils nur das Minimum in die 2. Säule einbezahlt. Deshalb wird meine Rente bescheiden ausfallen und wohl nicht zum Leben in der Schweiz ausreichen.
Zweimal Meister und viermal Cupsieger mit Sion: Das ist die Erfolgsbilanz von Goalie Stephan Lehmann (57). Der Schaffhauser stand bereits mit 15 beim FCS im Kader. Nach seiner erfolgreichen Zeit in Sion (1988–1997) spielte er noch zwei Jahre für den FC Luzern. Für die Nati bestritt er 14 Länderspiele und sass in mehr als 50 Partien auf der Bank.
Nach seiner Aktivkarriere arbeitete er erfolgreich als Goalie-Trainer. So zum Beispiel 2006, als der FC Luzern unter Trainer René van Eck und eben Lehmann in die Super League aufstieg. Zuletzt war er beim FC Wil und in Cham. Lehmann lebt mit seiner Frau in der Innerschweiz.
Zweimal Meister und viermal Cupsieger mit Sion: Das ist die Erfolgsbilanz von Goalie Stephan Lehmann (57). Der Schaffhauser stand bereits mit 15 beim FCS im Kader. Nach seiner erfolgreichen Zeit in Sion (1988–1997) spielte er noch zwei Jahre für den FC Luzern. Für die Nati bestritt er 14 Länderspiele und sass in mehr als 50 Partien auf der Bank.
Nach seiner Aktivkarriere arbeitete er erfolgreich als Goalie-Trainer. So zum Beispiel 2006, als der FC Luzern unter Trainer René van Eck und eben Lehmann in die Super League aufstieg. Zuletzt war er beim FC Wil und in Cham. Lehmann lebt mit seiner Frau in der Innerschweiz.
Lassen Sie uns auf die guten alten Zeiten zurückblicken. In Sion sind Sie bis heute ein Held. Wie wars mit CC?
Ach, der Christian. Als ich 1988 ins Wallis wechselte, hiess der Präsident noch André Luisier. Nach vier Jahren kam CC, und die ganze Harmonie war plötzlich weg. Ich habe dann unglaubliche Sachen erlebt.
Erzählen Sie!
Einmal hat er während Wochen einen Privatdetektiv auf mich angesetzt. Der hat sich immer vor meinem Haus positioniert und aufgeschrieben, wann ich nach Hause kam. Ich habe das zuerst gar nicht bemerkt, doch dann fiel meiner Freundin auf, dass auf einem Besucher-Parkplatz immer ein Auto mit einem Typen drin stand.
Auch 1995 gerieten Sie und CC aneinander. Damals wurden Sie im Schlafwagen vom Trainingslager heimgeschickt. Was hatten Sie angestellt?
Das war in Aix-en-Provence. Roberto Assis, der Bruder von Ronaldinho, hatte jeden Tag verschlafen und kam deshalb immer zu spät ins Training. Doch der Trainer sagte einfach nichts. Irgendwann warf mir Assis einen Ball mitten ins Gesicht. Da ging bei mir der Puls rauf, und es hat «gräblet». CC entschied dann, dass ich nach Hause geschickt werde. Ich stand um Mitternacht allein am Bahnhof von Marseille, mitten zwischen den Drogenabhängigen. Als ich dann im Zug die Zähne putzen ging und zurück zu meinem Couchette ging, lag plötzlich ein Obdachloser in meinem Bett. Das war ein echter Horrortrip.
Legendär ist auch die Liverpool-Episode.
Mein grösster Kindheitstraum war es immer, einmal an der Anfield Road zu spielen. 1996 ging dieser in Erfüllung. Ich konnte vor Aufregung kaum noch schlafen. Vor dem Rückspiel sagte uns CC, dass wir die Leibchen nicht tauschen dürfen, da sie neu seien.
Was passierte dann?
Nach dem Schlusspfiff rannte Liverpool-Goalie David James, damals Englands Nummer 1, über den ganzen Platz und wollte mit mir das Leibchen tauschen. Da konnte ich nicht Nein sagen. Als ich danach in die Garderobe zurückkehrte, schäumte CC. Er sagte: «Du bist der schlechteste Goalie von ganz Europa. Du wirst nie mehr für Sion spielen.»
Wie reagierten Sie darauf?
Ich sagte ihm: «Komm, gib mir einen Zettel. Ich unterschreibe dir das sofort. Ich will eh gehen.» Da rannte er einfach davon. Im darauffolgenden Jahr hat er mir übrigens nochmals gesagt, dass ich nie mehr für Sion spielen werde.
Wann war das?
Bei der Siegerehrung nach dem Meistertitel 1997. Ich stand da und hielt den Pokal hoch. Plötzlich schlich sich CC von hinten an, legte den Arm um mich und sagte: «Du hast eine schöne Karriere gehabt, aber du wirst hier nie mehr spielen.»
Damals trat das dann auch so ein. Später waren Sie aber nochmals Goalie-Trainer in Sion.
2012 holte CC mich als Goalie-Trainer zurück. Er gab mir einen super Vertrag. In der Winterpause waren wir Dritter. Vor den Ferien umarmte er mich und sagte mir, dass ich sensationell gearbeitet habe. Als ich aus Thailand zurückkehrte, liess er mir ausrichten, dass ich nicht mehr zur Arbeit erscheinen müsse. Keine Ahnung warum. Ich habe ihm dann nur gesagt: «Christian, ruf mich das nächste Mal an, wenn Ihr mal wieder auf dem dritten Rang liegt.» Ich habe bis heute keinen Anruf von ihm bekommen ...
Nochmals zurück zur besagten Siegerehrung. Sie tragen dort ein Schiedsrichter-Leibchen. Warum?
Nach dem Schlusspfiff wollte der Schiedsrichter unbedingt das Leibchen mit mir tauschen.
Apropos Schiedsrichter. Warum flog ausgerechnet Heisssporn Lehmann während seiner gesamten Karriere nie vom Platz?
Das habe ich Roger Wehrli zu verdanken. «Steph, du musst den Schiedsrichter immer siezen», hat er mir mal gesagt. Das habe ich verinnerlicht. Ich habe sicher den einen oder anderen mal beleidigt, ihn dabei aber immer gesiezt. Das hat prima funktioniert.
... Jogi Löw
«Mit ihm habe ich 1986/87 beim SC Freiburg in der 2. Bundesliga gespielt. Für mich war das eine harte Zeit. Zuerst lebte ich in einer Pension mitten im Wald. Im Zimmer hatte es weder einen Radio noch ein Fernsehgerät. Später hauste ich in einer 25 Quadratmeter kleinen Wohnung. Meine Mitspieler sagten mir immer, ich sei der kleine, dicke Schweizer. Doch mit Jogi hatte ich es immer gut, wir haben oft zusammen gepokert, und später habe ich ihn gar zum FC Schaffhausen vermittelt.»
… Nordstern Basel
«Mit 17 wäre ich beinahe in Basel gelandet, weil mein Klub, der FC Schaffhausen, einen neuen Goalie holte. Wir waren uns schon einig. Doch weil das Übertrittsgesuch von Nordstern Basel zu spät abgestempelt wurde, platzte der Transfer. Im Nachhinein war das natürlich ein Glücksfall für mich.»
… Gilbert Facchinetti
«1986 verpflichtete mich der Xamax-Präsident. Doch weil er mit Joël Corminbœuf bereits eine Nummer 1 hatte, lieh er mich nach Freiburg und später nach Schaffhausen aus. Eines Tages rief er mich an und sagte, ich müsse sofort nach Bellinzona fahren. Ich packte all meine Sachen und düste ins Tessin. Nach drei Wochen Probetraining fragte ich ihn, wann ich denn endlich den Vertrag unterschreiben dürfe. Er sagte mir, es gäbe eine Planänderung, ich müsse um 5 Uhr in Saint-Blaise sein. Dort angekommen liess Facchi mich erst mal zwei Stunden warten. Dann fuhr er mit mir nach Sion und erklärte mir erst auf dem Weg dorthin, dass dies jetzt mein neuer Verein sei. Es war das Beste, was mir passieren konnte.»
… die Nati
«Leider war ich nie die Nummer 1, doch ich durfte an die WM und an die EM reisen und habe als Ersatzgoalie nie Stunk gemacht. Speziell war vor allem die Zeit mit Roy Hodgson und dessen Goalie-Trainer Mike Kelly. Während der WM 1994 waren die fast nur auf dem Golfplatz anzutreffen. Irgendwann einmal versteckten wir Kellys Golfschuhe. Da ist der so richtig ausgetickt und hat nur noch rumgeschrien. Da hatten wir so die Hosen voll, dass wir sie ihm gleich wieder zurückgaben.»
… Vladimir Petkovic
«Mit ihm habe ich in Sion zusammengespielt. Er war ein guter Innenverteidiger. Nicht gerade ein Blitz, aber ein super Typ, menschlich, sozial.»
... Jogi Löw
«Mit ihm habe ich 1986/87 beim SC Freiburg in der 2. Bundesliga gespielt. Für mich war das eine harte Zeit. Zuerst lebte ich in einer Pension mitten im Wald. Im Zimmer hatte es weder einen Radio noch ein Fernsehgerät. Später hauste ich in einer 25 Quadratmeter kleinen Wohnung. Meine Mitspieler sagten mir immer, ich sei der kleine, dicke Schweizer. Doch mit Jogi hatte ich es immer gut, wir haben oft zusammen gepokert, und später habe ich ihn gar zum FC Schaffhausen vermittelt.»
… Nordstern Basel
«Mit 17 wäre ich beinahe in Basel gelandet, weil mein Klub, der FC Schaffhausen, einen neuen Goalie holte. Wir waren uns schon einig. Doch weil das Übertrittsgesuch von Nordstern Basel zu spät abgestempelt wurde, platzte der Transfer. Im Nachhinein war das natürlich ein Glücksfall für mich.»
… Gilbert Facchinetti
«1986 verpflichtete mich der Xamax-Präsident. Doch weil er mit Joël Corminbœuf bereits eine Nummer 1 hatte, lieh er mich nach Freiburg und später nach Schaffhausen aus. Eines Tages rief er mich an und sagte, ich müsse sofort nach Bellinzona fahren. Ich packte all meine Sachen und düste ins Tessin. Nach drei Wochen Probetraining fragte ich ihn, wann ich denn endlich den Vertrag unterschreiben dürfe. Er sagte mir, es gäbe eine Planänderung, ich müsse um 5 Uhr in Saint-Blaise sein. Dort angekommen liess Facchi mich erst mal zwei Stunden warten. Dann fuhr er mit mir nach Sion und erklärte mir erst auf dem Weg dorthin, dass dies jetzt mein neuer Verein sei. Es war das Beste, was mir passieren konnte.»
… die Nati
«Leider war ich nie die Nummer 1, doch ich durfte an die WM und an die EM reisen und habe als Ersatzgoalie nie Stunk gemacht. Speziell war vor allem die Zeit mit Roy Hodgson und dessen Goalie-Trainer Mike Kelly. Während der WM 1994 waren die fast nur auf dem Golfplatz anzutreffen. Irgendwann einmal versteckten wir Kellys Golfschuhe. Da ist der so richtig ausgetickt und hat nur noch rumgeschrien. Da hatten wir so die Hosen voll, dass wir sie ihm gleich wieder zurückgaben.»
… Vladimir Petkovic
«Mit ihm habe ich in Sion zusammengespielt. Er war ein guter Innenverteidiger. Nicht gerade ein Blitz, aber ein super Typ, menschlich, sozial.»
Wer war in all den Jahren Ihr verrücktester Teamkollege?
Da fallen mir zwei ein: Fredy Chassot und Steffen Karl.
Wer war der Verrücktere?
Fredy, eigentlich ein feiner Typ, aber manchmal hat der einfach ein Weinglas gegessen und runtergeschluckt. Der Wahnsinn! Oder ich kann mich an eine Episode in Rom erinnern. Wir waren dort im Trainingslager und abends in einem feinen Restaurant. Auf einmal ertönte ein komisches Geräusch.
Was war los?
Fredy hatte während dem Essen einfach unter den Tisch gepinkelt. Wir haben dann gleich bezahlt und uns unauffällig aus dem Staub gemacht.
Und wie wars mit Karl?
Auch er war eigentlich ein Lieber. Doch wenn er ein bisschen zu viel getrunken hatte, konnte er austicken. Einmal hatten wir vor einem Spiel auf Zypern Besammlung im Wallis. Doch von Karl fehlte jede Spur. Jemand fand ihn dann zu Hause schlafend, inmitten von leeren Flaschen. Trainer Barberis nahm ihn trotzdem mit nach Zypern, sagte ihm aber, dass er nicht spielen werde.
Wie gings weiter?
Karl war so müde, dass er nachmittags auf dem Balkon einschlief und sich einen Sonnenbrand vom Feinsten einfing. Er war richtig zündrot und hatte einen Sonnenstich. Abends lagen wir zur Halbzeit gegen Apollon Limassol 0:1 zurück. Barberis entschied sich dann, ihn doch einzuwechseln. Ich sagte Karl: «Jetzt musst du was zeigen.» Er nur: «Mach dir keine Sorgen.» Dabei hat er richtig gezittert, wohl wegen des Sonnenstichs.
Was passierte dann?
Karl gab zu allen drei Toren den Assist. Er hat das Spiel im Alleingang gekehrt. Unglaublich!
Solche Geschichten wären heute undenkbar. Zu Ihrer Zeit haben auch viele Spieler noch geraucht.
Ja, damals rauchten viele Kette. In der Pause gab es jeweils einen richtigen Kampf ums WC, weil dies der einzige Ort war, wo man rauchen durfte. Oder auch im Bus wurde gequalmt ohne Ende. Nach einer halben Stunde konnte man jeweils nichts mehr sehen, alles voller Rauch.
Wie war jeweils Ihr Verhältnis zu den anderen Goalies im Team?
Eigentlich gut, da ich ja immer die Nummer 1 war.
Was passierte, wenn ein Konkurrent Ihren Job streitig machen wollte?
Dann hat man halt mal im Training den Kollegen unglücklich getroffen und ihn dabei aus Versehen leicht verletzt (lacht). Das war bei den Feldspielern übrigens noch extremer. Wenn einer zum Probetraining kam, musste der jeweils froh sein, wenn er die ersten beiden Tage unverletzt überstand. Es ging halt jeweils um deinen Arbeitsplatz …
Eine letzte Frage: Stimmt die Geschichte, dass Sie möglicherweise Opfer eines Anschlags wurden?
Ja, aber beweisen kann ich das natürlich nicht. 2004 holte ich ja mit dem FC Wil den Cupsieg. Offiziell als Goalie-Trainer, aber eigentlich war ich der Trainer. Die Wiler hatten damals russische Investoren, und Igor Belanow hatte das Sagen. Die bezahlten die Spielerlöhne sehr unregelmässig. Irgendwann kam Igor zu mir und überreichte mir ein Couvert mit 20’000 Franken drin. Dies sei ein Dankeschön für meine Arbeit.
Wie reagierten Sie darauf?
Ich sagte ihm: «Dieses Geld nehme ich nicht an. Du musst das den Spielern geben.» Er sagte dann nur: «Du nimmst mein Geld nicht, du kaputt.» Dabei machte er eine Kopf-ab-Geste. Als ich drei Wochen später mit meinem VW Polo von Wil nach Luzern fahren wollte, explodierte nach wenigen Kilometern plötzlich der Motor. Das konnte kein Zufall sein.