Herr Cornu, stimmt es, dass es Sie gar nicht hätte geben sollen?
Jacques Cornu: Das stimmt. Nach zwei Geburten mit Komplikationen sprach der Doktor meiner Mutter ein Kinderverbot aus. Er sagte: «Sie oder das Kind – einer davon wird die Geburt nicht überleben!» Doch offenbar kam ich unter einem guten Sternlein zur Welt, denn wir beide überlebten.
Während Ihres gesamten bisherigen Lebens rangen Sie aber immer mal wieder mit dem Tod. Wann hatten Sie das erste Mal so richtig Glück?
Da war ich sechs Jahre alt. Ich musste dringend aufs Klo, stieg auf eine Passerelle, die über die Bahnschienen führte und pinkelte auf eine 15'000-Volt-Leitung. Ich sah nur noch Licht, es lärmte mächtig, und ich fiel rückwärts hin. Danach rannte ich davon, das «Pfeifchen» noch draussen. Doch zum Glück ist nichts zurückgeblieben, ich habe danach ja drei Töchter gekriegt.
War diese Aktion typisch Cornu?
Ja, ich habe schon immer gerne «Seich» gemacht. Einmal fuhr ich mit den Eltern mit dem Töff zu meinen Grosseltern. Vorne sass der Vater, hinten die Mutter und ich dazwischen. Weil ich so kaum etwas sah, wurde mir langweilig. Deshalb hielt ich meinen Schuhabsatz leicht in die Speichen des Hinterrads, das hat so schön «chuzelet».
Was passierte dann?
Offenbar übertrieb ich es dabei. Auf einmal nahm es mir den Schuh rein. Das hat richtig weh getan. Erst später sah ich, dass die Ferse nicht mehr da war.
Wie reagierten Ihre Eltern?
Die waren vor allem sauer, weil sie in der Nacht darauf wegen meiner Schmerzensschreie nicht richtig schlafen konnten.
Was geschah, wenn Ihre Eltern sauer waren?
Dann kam halt der Teppichklopfer oder der Gurt zum Einsatz. Natürlich immer im Keller, damit die Nachbarn nicht hören konnte, wie laut ich schrie. Aber das war eine andere Zeit. Trotzdem habe ich meinen Eltern viel zu verdanken. Sie hatten kaum Geld. Den Willen, es trotzdem zu schaffen, habe ich von ihnen vererbt bekommen.
Als Sie 14 Jahre alt waren, starb Ihre Mutter Selma.
Wir waren im Wallis auf einer Bergwanderung. Meine Mutter lief direkt hinter mir, als sie wegen eines Fehltritts rund 200 Meter in die Tiefe stürzte. Ich sehe noch heute das Bild, wie sie über das Geröll fliegt. Dabei brach sie sich die Wirbelsäule und war gelähmt. Sie starb einen Monat später im Spital.
Wann entdeckten Sie eigentlich Ihre Faszination fürs Rennfahren?
Schon als Kind liess mich mein Vater auf der Autobahn gelegentlich ans Steuer seines Volvos. Ich bretterte dann mit 200 km/h über die Strassen. Später machte ich eine Lehre als Automechaniker. Dort reparierte ich einen alten VW Käfer, der schrottreif war.
Hatten Sie damals schon einen Ausweis?
Natürlich nicht, aber das war nun mal eine andere Zeit. Ich war 17 und das Auto nicht eingelöst. Trotzdem fuhr ich damit rum. Einmal gingen wir tanzen und tranken nicht nur Wasser. Auf der Rückfahrt fuhr ich den Käfer in den Strassengraben. Folgen hatte es zum Glück keine, denn einer meiner Mitfahrer war der Sohn eines Polizisten …
Doch Sie waren dadurch Ihr Auto wieder los!
Ich habe deshalb neben meiner Lehre auf einem Campingplatz in Colombier gearbeitet. Jeden Abend fuhr ich mit dem Velo dorthin und habe bis 1 Uhr morgens Teller abgewaschen. Mein Ziel war es, mit dem Geld ein neues Auto zu kaufen. Ich verdiente so 900 Franken zusätzlich, doch das reichte nicht für ein neues Auto. Deshalb kaufte ich mir einen Töff.
Der Motorradrennfahrer Cornu ward demnach nur dank eines Zufalls geboren?
Ja, meine ersten Rennen fuhr ich mit zehn Jahre alten Strassentöffs. In den Kurven konnte ich meine Gegner immer überholen, aber auf der Geraden fuhren sie mir einfach wieder davon, weil sie mehr Leistung hatten. Irgendwann sagte ich mir: Entweder ich höre auf oder ich muss irgendwie an ein konkurrenzfähiges Motorrad rankommen. Deshalb arbeitete ich abends bei einem Kumpel, um mehr Geld zu verdienen. Als ich mir später dann endlich einen richtigen Töff leisten konnte, war ich sofort an der Spitze mit dabei.
Wie muss man sich Ihre ersten Jahre als Rennfahrer vorstellen?
Ich fuhr jeweils mit einem Renault R4 an die Rennen. Den Beifahrersitz nahm ich raus. Dann stopften wir alles rein – den Töff, das Werkzeug, Benzin und den Mechaniker. Übernachtet haben wir jeweils in einem Zelt.
Hatten Sie keine Sponsoren?
Ich war halt ein einfacher Mann und war nicht gut angezogen. Als ich einmal Schweizer Meister wurde, stand ich barfuss, mit Hut und einer Pfeife im Mund auf dem Podest. Da sagte ein möglicher Sponsor: «Wir können uns mit einer solchen Vogelscheuche doch nicht identifizieren.» Eigentlich ist es schon erstaunlich, was ich danach in meiner Karriere noch erreicht habe. Ein Tom Lüthi wurde mit 17 schon Weltmeister, ich wusste bis 20 gar nicht, dass ich dereinst ein Motorradrennfahrer werden würde.
Auch während Ihrer Zeit als Rennfahrer kamen Sie mit dem Tod in Berührung. Das erste Mal in Le Mans 1983.
Ich fuhr damals mit Platz 2 das beste Resultat meiner Karriere heraus. Doch eine Stunde später starb in einer anderen Klasse mein Kumpel Michel Frutschi. Erst eine Woche zuvor hatte er erfahren, dass er Vater werden würde.
Wie gingen Sie damit um?
Natürlich war das ein Drama, aber als Rennfahrer musst du ein Egoist sein, ein Krieger. Die Probleme der anderen durften dich nicht gross interessieren.
Ein Jahr später wären aber Sie beinahe gestorben.
Ich war mit dem Auto unterwegs nach Italien. Mit 200 km/h. In der Nähe von Novara baute ich einen Selbstunfall. Als ich das Warndreieck aufstellen wollte, wurde ich von einem nachfolgenden Auto erwischt. Der Aufprall war so heftig, dass ich mit meinem Kopf die Windschutzscheibe zertrümmerte. Von da an weiss ich nichts mehr. Später erfuhr ich, dass sie wegen eines Schädelbruchs und einer Hirnblutung meinen Kopf öffnen mussten. Die mussten lange suchen, bis sie das Hirn fanden … (lacht)
Lustig war das aber nicht. Wie lange hatten Sie mit den Nachwirkungen zu kämpfen?
Beim Unfall wurde mein inneres Ohr stark beschädigt, was wiederum meinen Gleichgewichtssinn störte. Als ich 1985 in Südafrika das erste Saisonrennen bestritt, hatte ich grosse Probleme. Sobald ich beim Bremsen den Kopf anhob, wurde alles trüb, und durch meine Augen sahen die Kerbs plötzlich eineinhalb Meter breit aus. Die Ärzte meinten damals, ich könne nie mehr um Siege mitfahren. Doch Ende des Jahres lag ich in der WM trotz unterlegenem Töff in den Top Ten.
Im Buch «Im Tal der Tränen» erzählen Sie eine lustige Anekdote von Le Castellet.
Im Training brach ich mir bei einem Sturz das Schlüsselbein. Ich kam ins Militärspital, wo man mich stundenlang liegen liess. Die hatten mich einfach vergessen und wollten mich erst am nächsten Tag operieren. Zudem hatte es in meinem Zimmer mehrere Patienten, die röchelten und wie der Tod aussahen. Also zog ich mir in der Nacht wieder das Lederkombi an und wollte abhauen.
Was passierte dann?
Ich wollte das Licht ablöschen, um nicht aufzufallen, erwischte stattdessen aber den Alarmknopf. Deshalb versteckte ich mich in der Leichenhalle, bevor ich nach draussen rannte. Die Wachen suchten längst nach mir. Ich bin dann mit einem gebrochenen Schlüsselbein über eine hohe Mauer geklettert und am nächsten Tag von der Rega in die Schweiz geflogen worden.
1990 beendeten Sie Ihre Karriere. Trotzdem klopfte der Tod noch ein paarmal hartnäckig bei Ihnen an.
Einmal kurz vor Weihnachten, ich war da 59. Bei einer Kontrolle wurde Schilddrüsenkrebs in fortgeschrittenem Stadium entdeckt. Als der Arzt dies mir mitteilte, brach er selber in Tränen aus. In diesem Moment war für mich klar: Das wars. Doch ich hatte einmal mehr viel Glück. Wenn ich das alles so erzähle, denke ich schon: Es ist ein Wunder, dass ich noch lebe.
Einmal brachten Sie einen Arzt aber auch zum Lachen. Wie war das mit dem Knochen?
Ich habe mal nachgerechnet: Ich hatte schon 28 Knochenbrüche. Als mir ein künstliches Hüftgelenk eingesetzt wurde, fragte ich den Arzt, ob ich den Knochen haben dürfe, schliesslich hätte ich einen Hund zu Hause. Ich habe ihn dann tatsächlich bekommen und bis heute aufbewahrt.
Vor fünf Jahren konnten Sie einmal mehr nicht mehr lachen. Was war da los?
Als ich mit meiner Tochter Squash spielen ging, hatte ich auf einmal Schmerzen in der Brust und Mühe mit dem Schnaufen. Doch der Doktor entdeckte nur ein bisschen Wasser auf der Lunge. Deshalb flog ich trotzdem zu einem Event nach Namibia. Schon auf dem Flug hatte ich grosse Schmerzen, und in Namibia fiel ich beim Töfffahren einfach immer um. Als ich dann auch noch Blut im Urin hatte, ging ich in einem kleinen Dorf in ein Spital. Dort stellte sich heraus, dass ich sieben Rippen gebrochen hatte. Das Beste kommt aber erst noch.
Was?
Auf dem Rückflug in die Schweiz brach ich dann zusammen und kam gleich in ein Spital. Dort stellte der Arzt fest, dass ich bereits vor meiner Reise eine Lungenembolie hatte und dass beim Unfall eine Rippe meine Milz durchstochen hatte. Dass ich mit einer Lungenembolie den Flug überlebte, war einmal mehr Mega-Glück.
Bei Ihrer Hochzeit mit Chantal waren aber für einmal nicht Sie das Problem.
Für die kirchliche Trauung war alles organisiert. Doch am Vortag wurde sie hochschwanger auf einmal krank und musste die nächsten Wochen liegend im Spital verbringen. Deshalb mussten wir die Hochzeit absagen. Als ich jeden Einzelnen anrief, sagten alle: «Haha, witzig, der Cornu macht mal wieder einen Scherz.»
Wie ging Chantal mit all Ihren Unfällen um?
Für sie war es nicht einfach. Immer wieder sass ich im Rollstuhl. Und überall, wo ich auftauchte, wurde ich gefragt, wie es mir ging, und meine Frau wurde wie Luft behandelt. Einmal verlor sie im dritten Monat unser Kind. Ich war schon auch traurig, aber anders wie sie. Für mich gab es in der Zeit nur das Töfffahren. Eine Frau will etwas anderes als einen Mann, der nur an seinen Töff denkt. Deshalb kann ich es verstehen, dass sie mich später verliess. Doch ich habe in meinem Leben nie nach hinten geschaut, sondern immer nach vorne.
Was sehen Sie, wenn Sie heute nach vorne schauen?
Ich freue mich im Juli auf eine Reise in die Mongolei. Leider nicht mit dem Töff, sondern im Jeep, am Steuer meine Freundin.
Warum?
Ich darf mindestens für die nächsten sechs Monate nicht selber fahren, da ich während eines Töff-Kurses einen epileptischen Anfall hatte. Das war vor einem Monat, ich bin einfach ohnmächtig geworden. Deshalb bin ich jetzt mit dem Velo unterwegs, aber wenns geht nur dort, wo es Leute hat. Falls ich wieder umfalle …
Haben Sie Angst vor dem Tod?
Nein, ich hoffe einfach, dass ich noch ein paar schöne Jahre vor mir habe und ich das Rentnerdasein geniessen kann. Ich habe schliesslich genug gearbeitet. Und wenn ich sterben sollte, habe ich noch einen Wunsch.
Welchen?
Dass ich in die Hölle komme und nicht in den Himmel, denn meine Kollegen von früher sind alle in der Hölle (lacht).