Frau Nef, Sie sollen als Kind ein richtiges Appenzeller «Lusmaitli» gewesen sein. Was haben Sie alles angestellt?
Sonja Nef: So einiges (lacht). Wir haben zum Beispiel manchmal mit einer Schere Velopneus zerstochen. Das war nicht böse gemeint, wir waren uns damals einfach der Folgen nicht bewusst.
Wurden Sie dabei mal erwischt?
Ja, als Strafe mussten wir die Schulordnung abschreiben. Wir haben auch im Gras nach Zigarettenstummeln gesucht und die dann fertig geraucht. Da war ich vielleicht neun, zehn Jahre alt. Ich fand damals alles spannend, was verboten war, und war ein wildes, burschikoses Kind. Definitiv kein typisches Mädchen.
Haben Sie sich deshalb auch mal die Haare abgeschnitten?
Das war zu Kindergartenzeiten. Ich habe mich damals aus purer Langeweile von meinen langen Haaren getrennt. Meine älteste Tochter Sophia hat das übrigens auch mal gemacht, weil sie wie Didier Cuche aussehen wollte.
Hatten Ihre Eltern immer Verständnis für Ihre Aktionen?
Ich bekam extrem viel Liebe geschenkt und hatte eine wunderbare Kindheit, auch wenn ich nicht immer die Einfachste war.
Riesenslalom-Gold an der WM 2001, Riesen-Bronze an Olympia 2002, zwei Kristallkugeln und 15 Weltcupsiege: Das ist die Erfolgsbilanz der Appenzellerin. 2006 trat sie zurück.
2011 heiratete sie den Österreicher Hans Flatscher, der heute als Nachwuchsverantwortlicher bei Swiss-Ski arbeitet. Das Paar hat drei Kinder: Sophia (15), Anna (13) und Julian (8). Alle drei sind leidenschaftliche Skirennfahrer.
Riesenslalom-Gold an der WM 2001, Riesen-Bronze an Olympia 2002, zwei Kristallkugeln und 15 Weltcupsiege: Das ist die Erfolgsbilanz der Appenzellerin. 2006 trat sie zurück.
2011 heiratete sie den Österreicher Hans Flatscher, der heute als Nachwuchsverantwortlicher bei Swiss-Ski arbeitet. Das Paar hat drei Kinder: Sophia (15), Anna (13) und Julian (8). Alle drei sind leidenschaftliche Skirennfahrer.
Wie sah es im Hause Nef finanziell aus?
Mein Vater Willi war Lastwagenchauffeur, und meine Mutter Frieda nähte in Heimarbeit Stoffnastücher. Sie mussten schon aufs Geld schauen, teure Sommerferien lagen deshalb nicht drin. Doch uns hat das nie gestört. Einmal machten wir am Bodensee Urlaub, mit einem Schlauchboot. Das war wunderbar. Oder manchmal durfte ich mit meinem Vater mitfahren.
Wie war das?
Toll, ich habe ihn in meinen Ferien gelegentlich auf der Tour nach Genf begleitet. Da gab es immer Schnitzel mit Pommes frites – und zwar zweimal am Tag! Geschlafen wurde im Lastwagen in einem Kajütenbett. Das war richtig abenteuerlich.
Blicken wir zurück auf Ihre Ski-Karriere. Wie fing alles an?
Da mein Vater skibegeistert war, stand ich schon als Dreijährige auf den Ski. Mit Windeln, weil ich nicht aufs WC wollte, um ja keine Zeit zu verlieren.
Stimmt die Anekdote, dass Sie mal eine Siegerehrung boykottieren wollten?
Ja, das war beim Salami-Cup in Elm. Da war ich etwa sieben. Ich wurde nur Zweite und war richtig sauer. Das Lustige daran: Wenig später stellte sich heraus, dass es einen Fehler bei der Zeitmessung gab und ich das Rennen doch gewonnen hatte.
1989 stürzten Sie bei den österreichischen Junioren-Meisterschaften schwer und rissen sich das Kreuzband im rechten Knie. Der Beginn einer jahrelangen Leidenszeit.
Weil es Komplikationen gab, musste das Knie insgesamt fünfmal operiert werden. Zwischen 17 und 20 bestritt ich deshalb kein einziges Rennen und flog 1992 aus dem Kader von Swiss-Ski. Während Jahren nahm ich täglich Voltaren, um die Schmerzen zu lindern und die Entzündungen zu hemmen.
Sie kämpften trotzdem weiter und feierten im März 1993 im schwedischen Vemdalen Ihr Weltcup-Debüt. Können Sie sich noch an die Anreise erinnern?
Natürlich, während die gestandenen Fahrerinnen fliegen durften, musste ich mit dem Schiff nach Schweden. Ich war bestimmt zwei volle Tage lang unterwegs. Damals musste man viel mehr um einen Weltcup-Platz kämpfen als heute. Man musste im Europacup schon aufs Podest fahren, um eine Chance zu bekommen. Und dann hatte man genau diese eine Möglichkeit, um unter die ersten 30 zu fahren. Sonst war man gleich wieder draussen.
Sie nutzten Ihre Chance und wurden 22.
Und das mit der Startnummer 54. Diese Genugtuung kann man sich nicht vorstellen, denn zuvor hatten ja viele Ärzte gesagt, dass man mit diesem Knie nicht mehr Ski fahren könne. Und auch im Verband glaubte niemand mehr an mich.
Das Glück währte nur kurz, danach musste Ihr Knie noch zweimal operiert werden. Sie waren damals Mitte 20, hatten kein Geld und keine Ausbildung.
Ich war damals oft sehr traurig. Vor dem Einschlafen kreisten immer meine Gedanken. Ich redete in der Zeit auch mit meinem Knie. Fragte es, warum es mich im Stich lässt. Warum es nach jeder Velofahrt wehtut. Warum ich immer wieder früher vom Gletscher abreisen musste, während die anderen noch trainieren konnten.
Wie oft dachten Sie in der Zeit an Rücktritt?
Mehr als nur ein Mal. Doch ich spürte immer: Wenn das Knie irgendwann wieder mitmacht, kann ich es schaffen. Ich habe damals auch viele Bücher verschlungen, in denen es darum ging, dass Gedanken Berge versetzen können. Es ist jedem selbst überlassen, ob für ihn das Glas halb voll oder halb leer ist. Für mich war es immer halb voll.
Hatten Sie wenigstens einen Plan B?
Konkret nicht, doch für mich war immer klar, dass ich auch noch mit 25 eine Lehre als Krankenschwester hätte anfangen können.
1996 schien Ihr Plan endlich aufzugehen. An der WM in der Sierra Nevada führten Sie im Riesenslalom nach dem ersten Lauf mit über einer Sekunde Vorsprung.
Und das auf mein grosses Idol Deborah Compagnoni. Zwischen den beiden Läufen war ich gedanklich schon Weltmeisterin und dachte, ich haue im zweiten Durchgang gleich noch einmal eine Laufbestzeit raus.
Stattdessen schieden Sie aus.
Ich wusste damals einfach nicht, wie man mit so einer Situation umgeht, und hatte nach dem ersten Lauf völlig falsche Gedankengänge. Für grosse Erfolge brauchst du mentale Reife. Die hatte ich da noch nicht. Nach Sierra Nevada habe ich lange mit dem Schicksal gehadert. Auch weil ich wusste, wie es meinem Knie geht, und ich keine Ahnung hatte, wie lange es noch durchhält.
Fünf Jahre später waren Sie an der WM in St. Anton wieder in der gleichen Situation: Führung nach Lauf 1.
Ich war da ein anderer Mensch und mir mittlerweile bewusst, dass das reale Leben wichtiger ist als ein WM-Titel.
Wie kamen Sie zu dieser Erkenntnis?
Da gab es einige Gründe. Mein Bruder hatte in der Zeit einen guten Freund verloren, der an Rückenmarkkrebs litt. Und Maria Walliser hatte mir einst erzählt, dass sie all ihre Weltmeistertitel hergeben würde, wenn ihre Tochter normal gehen könnte. Solche Schicksale haben mich beschäftigt, und mir wurde bewusst, was wirklich zählt.
Trotzdem, was ging in Ihnen in St. Anton nach dem ersten Lauf vor?
Ich wusste ganz genau, dass ich mit der Laufbestzeit der Goldmedaille noch keinen Schritt näher gekommen war. Ich habe mich darüber auch nicht gefreut und keine einzige Sekunde an die Siegerehrung oder Ähnliches gedacht. Weil es damals stark geschneit hat und der 2. Lauf nach hinten geschoben wurde, schloss ich mich dann ins WC ein und sammelte dort Kraft. Ich konnte in der Situation loslassen und den Druck abgeben. Mein Gedanke: Sollte ich jetzt wieder ausscheiden, musste es halt so sein.
Ihr Plan ging auf. Sie wurden Weltmeisterin und waren fortan das Schätzchen der Nation. Hat Ihnen diese Rolle gefallen?
Ich empfand das als Anerkennung und habe davon auch profitiert, denn als Schätzchen der Nation hatte ich bei Vertragsabschlüssen ein zusätzliches Argument.
2004 sagten Sie: «Es gibt nur wenige schöne Frauen im Skisport. Vielen Fahrerinnen ist ihr Aussehen egal.» Wie kam das an?
Habe ich das wirklich so gesagt? Ich meinte damit, dass viele Skifahrerinnen damals ihre feminine Seite nicht gezeigt haben und sich burschikoser gaben. Auch ich fuhr die Rennen ungeschminkt. Doch dann wurde der Skisport weiblicher. Vor allem Lindsey Vonn hat in diesem Bereich den Skisport revolutioniert.
Kommen wir zu einem traurigen Thema. Sie verloren ein paar wichtige Wegbegleiter, so zum Beispiel Régine Cavagnoud.
2001 standen wir in Sölden gemeinsam auf dem Podest. Zwei Tage später verunglückte sie im Abfahrtstraining tödlich. Das ist mir extrem eingefahren, weil mir da bewusst wurde, wie gefährlich das Leben ist und dass von heute auf morgen alles vorbei sein kann. Der Tod gehört nun mal zum Leben dazu.
Fünf Jahre später wurde die Skirennfahrerin Corinne Rey-Bellet von ihrem Mann erschossen.
Corinne und ich waren gleich alt und sind uns schon in Ovo Grand Prix begegnet. Damals waren wir etwa neun Jahre alt. Später kamen wir zur gleichen Zeit ins C-Kader. Obwohl wir völlig verschiedene Persönlichkeiten waren, haben wir einander extrem geschätzt und bewundert.
Wie haben Sie von ihrem Tod erfahren?
Ich war gerade daran, mein Saisonabschlussfest in Heiden zu organisieren, als mich ein Journalist anrief und es mir erzählte. Ich konnte es zuerst gar nicht glauben. So geht es mir bis heute. Es gibt noch immer Situationen, in denen ich nicht glauben kann, dass sie nicht mehr da ist.
2010 schlug das Schicksal erneut zu. Ihr Vater Willi fiel in ein Wachkoma.
Er war komplett gelähmt und lag einfach nur da. Ein volles Jahr lang. Er war wie lebendig begraben. Das war die Hölle. Irgendwann hiess es vonseiten der Ärzte: Wenn es in den nächsten Wochen nicht aufwärtsgeht, müssen sie sich darüber Gedanken machen, die Maschinen abzustellen.
Das Unglaubliche daran: Ihr Vater verstand Sie, konnte sich selbst aber nicht bemerkbar machen.
Wir wussten damals noch nicht, dass er uns versteht. Seine Augen waren immer geschlossen. Doch als er wieder aufwachte, erzählte er uns, dass er vieles mitbekam, manchmal aber einfach nicht wusste, ob das real war oder ob er das nur geträumt hatte.
Wie merkten Sie, dass er langsam wieder zu sich kam?
Irgendwann hatte eine Krankenschwester auf einmal das Gefühl, dass sich sein Zeigefinger ganz leicht bewegt habe. Sie sagte ihm dann, er solle den Zeigefinger bewegen, wenn er sie hören würde. Und tatsächlich, er bewegte sich. Später machten wir mit ihm ab, dass einmal Augenzwinkern Ja und zweimal Nein bedeutet. Danach ging es langsam, aber stetig bergauf. Er musste danach alles wieder erlernen. Das dauerte Monate.
2011 heirateten Sie Ihren Mann Hans Flatscher. Mit an der Hochzeit war Ihr Vater.
Das war unglaublich emotional, weil mein Mami zu der Zeit auch noch Krebs hatte. Die Ärzte sagten mal, dass mein Vater nie mehr werde laufen können. Doch das war sein grosses Ziel. An meiner Hochzeit kam er angefahren. Er stieg aus, nur mit einem Stock und ohne Rollator und lief auf mich zu. Es war das erste Mal, dass er wieder lief.
Sechs Jahre später starb Ihr Vater an Krebs. Wie geht es heute Ihrer Mutter?
Ihr sagten sie einst, sie werde Weihnachten nicht mehr erleben. Das ist jetzt schon zehn Jahre her, und sie lebt noch immer. Ich verstehe manchmal nicht, warum die Ärzte immer solche Prognosen wagen.
Wir sitzen hier in Ihrem Haus in Mörschwil, mit Blick auf den Bodensee. Der Plan war einst ein anderer. Sie hatten im österreichischen Unken, der Heimat Ihres Mannes, ein Haus gebaut. Warum sind wir jetzt nicht dort?
Als Spitzensportlerin lebst du in einer Blase. Als das Haus gebaut wurde, war ich noch aktiv und hatte schon leise Zweifel. Als meine Karriere dem Ende zuging, fragte ich mich: Will ich dort leben? Meine Antwort war: Nein. Das Doofe daran: Das Haus stand schon …
Warum wollten Sie dort nicht leben?
Ich habe gerne eine grössere Stadt und einen See in meiner Nähe. Doch Unken liegt in einem Kessel, auf beiden Seiten hats steile Felswände. Ich bin dort fast erstickt. Irgendwann habe ich Hans gesagt, dass ich dort nicht leben kann.
Hat er Sie verstanden?
Am Anfang nicht. Das war für unsere Beziehung nicht einfach. Doch mittlerweile fühlt er sich hier auch sehr wohl.
Gibt es das Haus noch?
Ja, wir sind dort oft über Weihnachten und in den Sommerferien. Das macht mir auch sehr viel Spass. Auch weil ich weiss, dass ich immer wieder gehen kann.
Am Dienstag werden Sie 50 Jahre alt. Wie sieht Ihr Leben heute aus?
Während acht Monaten im Jahr bin ich Hausfrau. Im Winter halte ich Referate oder werde von Firmen für Skitage gebucht. Unsere drei Kinder sind mit ihrem Sport sehr engagiert. Wir wohnen an einem furchtbaren Ort zum Skifahren, weil die Berge nicht gleich um die Ecke sind. Ohne Hilfe kommen die Kinder daher nicht sehr weit. Das alles unter einen Hut zu bringen, ist eine Riesen-Challenge, da mein Mann als Trainer ja auch sehr oft unterwegs ist.
Fahren Sie noch Ski?
Ja, aber mittlerweile bin ich eine Schönwetterskifahrerin.
Und wie geht es Ihrem Knie?
Ich habe seit zwei Jahren ein neues Kniegelenk. Dadurch habe ich meine Lebensqualität zurückbekommen.