Die Fussballfans rund um den Globus rieben sich die Augen. Ich sehe die Szenen aus dem Spiel noch vor mir, als wären sie eben erst passiert – es war ein Dienstag. Jeder Schuss ein Treffer, jede Aktion noch schöner als die vorherige. «Die Deutschen spielen Jojo mit den Brasilianern», schreit der deutsche Kommentator. «Ich fass es nicht, ich fass es nicht, was ich hier gerade sehe». 1:0, 2:0, 3:0, 4:0, 5:0, 6:0 7:0, 7:1. Deutschland fliegt in den Final, Brasilien weint herzzerreissend.
Ein denkwürdiges WM-Spiel war es im Mineirão in Belo Horizonte. Das Empire State Building in New York leuchtete in der Nacht auf Mittwoch in Schwarz-Rot-Gold. Die Bild-Zeitung widmete jedem Tor der Deutschen eine eigene Seite, schrieb als Titel «Ohne Worte» darüber und verkaufte 330'000 Exemplare mehr als sonst. Zehn Jahre ist es her. Du meine Güte, schon zehn Jahre. Wie schnell die Zeit vergeht. Dabei scheint das alles doch zum Greifen nah. Die Erinnerungen als Zeitmaschine. Dank ihnen können wir die Momente festhalten, den reissenden Fluss kurz zum Stillstand bringen. Die Zeit, dieses wertvolle, knappe Gut, die einem aus der Hand rutscht, wenn man nach ihr greifen will. Von der man stets zu wenig hat. Die immer schneller vergeht, je älter man wird.
Der Fluch der Flüchtigkeit
Die Mitspieler, mit denen man so viel Zeit verbrachte – es scheint mir gar nicht so lange her – wo sind sie hin? Während man zusammen spielt, ist man verschworen, liegt sich in den Armen, hat gemeinsame Ziele und Träume, pflegt man beste Freundschaften. Und nach der Saison? Trennt man sich unsentimental, versucht sich an einem neuen Ort, mit gleichen Zielen, neuen Freunden. Und dann, schwups, ist die Karriere vorbei. Ein paar wenige der ehemaligen Weggefährten sieht man heute noch ab und zu – manche mit neuen Hüften, andere mit neuen Lebenspartnerinnen, die heute nur wenig älter sind, als ihre Ehefrauen damals waren. Man sammelt ein paar gemeinsame Erinnerungen, spricht über die Spieler, die nicht mehr unter uns sind. Mehr Zeit bleibt meistens nicht – ein Fluch, diese Flüchtigkeit.
Als Dzemaili bloss den Pfosten traf
Ein Jahrzehnt ist seit dem WM-Titel der Deutschen vergangen. Wie auch seit der Torchance von Blerim Dzemaili, der in der letzten Minute der Verlängerung im Achtelfinalspiel gegen Argentinien mit seinem Kopfball am Pfosten scheiterte und auch den Nachschuss nicht versenken konnte. Aus, vorbei! Die Szene hat wohl jeder Nati-Fan im Kopf abgespeichert. Und wenn nicht, kann man sie nachschauen, so oft man möchte, dank der Technik, dem Internet. Ändern kann man sie nicht mehr. Die Zeit ist unerbittlich, sie gibt einem keine zweite Chance.
Dzemaili ist nicht mehr aktiv, er geniesst sein Rentnerleben als Ex-Profi, lebt gemütlich, spielt Golf, nimmt sich Zeit für die Familie. Jogi Löw, der Weltmeistertrainer von 2014 hat es im Vergleich strenger. Im Jubiläumsjahr wollen alle Deutschen etwas von ihm: seine Zeit, seine Erinnerungen, seine Expertise, seine Prognosen fürs anstehende EM-Grossereignis zu Hause. Löw muss die Medien-Anfragen sortieren, viel Zeit investieren. Und wenn die EM vorbei ist, dann steigt er vielleicht noch einmal in die Trainerhose. Mit 64 Jahren hat er nicht mehr so viel Zukunft wie noch 2014, aber noch genügend Zeit, um weitere Fussball-Kapitel zu schreiben. Man muss sich die Zeit nehmen, solange von ihr noch was übrig ist.