Das neue Jahr hat gerade erst begonnen und ich muss schon etwas beichten: Ich bin fremdgegangen. Passiert ist es gestern Abend, ich konnte einfach nicht widerstehen. Zu verlockend war die Aussicht auf freudvolle Stunden. Und ehrlich gesagt, ich bin nicht enttäuscht worden. Was dieser 16-jährige englische Wunderknabe Luke Littler und sein Namensvetter und Landsmann Luke Humphries im Finale der Darts-WM geboten haben, war Unterhaltung auf allerhöchstem Niveau. Wo sonst das Herz für den Fussball schlägt, sorgte für einmal die grandiose Scheiben-Show samt den verrückten Fans im Londoner «Ally Pally» für grosse Gefühle. Was für ein Spektakel!
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Schweiz eine Ausnahme
Aber auch König Fussball gönnt uns in diesen Tagen kaum eine Atempause. Die 33 Tage Winterschlaf, in die sich die Super League vor Weihnachten verabschiedet hat, sind da schon eine echte Ausnahme. Nur die österreichische Bundesliga pausiert mit vollen zwei Monaten noch länger. Andere grosse Ligen legen spätestens Ende nächster Woche wieder los – oder haben ohnehin über die Festtage und den Jahreswechsel durchgemacht. Allen voran natürlich die Premier League, die in den vergangenen zwei Wochen fast täglich Spiele auf dem Programm hatte.
Mein Highlight – neben dem kurzen Abstecher zum Darts – war dabei das 4:2 von Liverpool gegen Newcastle am Neujahrsabend. Ein wahres Feuerwerk mit unglaublich vielen heissen Torszenen und sechs Treffern in der zweiten Halbzeit. Der Spitzenreiter von der Anfield Road untermauerte mit diesem eindrucksvollen Sturmlauf seine Rolle als einer der grossen Titelanwärter. Und doch ist das Team der Stunde in England gerade ein anderes: Aston Villa.
Bei Aston Villa träumt man
Der Traditionsklub aus Birmingham steht momentan sensationell auf Platz 2 der Tabelle. Pünktlich zum 150-jährigen Bestehen des Vereins, das in diesem Jahr gefeiert wird, ist der Traum vom Titel so greifbar wie lange nicht. Denn die ruhmreichen Zeiten der Villans liegen weit zurück. So weit, dass sie mich an meinen ersten Schüleraustausch als Teenager vor fast 40 Jahren erinnern. Mein damaliger Austauschschüler Dean war glühender Anhänger der «Claret and Blue», wie Aston Villa wegen seiner Vereinsfarben Weinrot und Hellblau auch genannt wird. Ich selbst favorisierte in England eher Nottingham Forest, weshalb ich zusammen mit Dean und seinem Vater ausgerechnet beim Duell dieser beiden Klubs in den Genuss meines ersten Spiels in einem englischen Stadion kam.
Das war im März 1986 – und schon damals hatten es die Villa-Fans schwer. Fünf Jahre zuvor hatte man den letzten von insgesamt sieben Meistertiteln geholt (wobei die sechs anderen aus der Zeit von 1894 bis 1910 stammen) und ein Jahr darauf, also 1982, sogar den Final im Europapokal der Landesmeister gegen Bayern München gewonnen. Doch innerhalb weniger Jahre war der Klub zu einem Abstiegskandidaten geworden, was 1987 tatsächlich mit dem Gang in die Zweitklassigkeit endete. Zwar gelangte Villa in den 1990er-Jahren noch ein paar Mal in die obere Tabellenregion der Premier League, doch an die Ära der grossen Erfolge konnte man nie mehr ganz anknüpfen.
Emery weiss, wie man Titel gewinnt
Auch vor gut einem Jahr dümpelte Aston Villa wieder mal in der Abstiegszone herum, ehe im Oktober 2022 Trainer Steven Gerrard entlassen und der Spanier Unai Emery als Coach verpflichtet wurde. Seither hat die Mannschaft eine wundersame Wandlung hingelegt. Vor allem der heimische Villa Park wurde im abgelaufenen Jahr zur uneinnehmbaren Festung. Zwischen Februar und Dezember gelangen Emerys Team unglaubliche 15 Heimsiege in Folge, darunter eine beeindruckende Machtdemonstration gegen den Meister und Champions-League-Sieger Manchester City, den man trotz des eigentlich nur knappen 1:0-Siegs geradezu an die Wand spielte. Das belegt nicht zuletzt die Bilanz von 22:2 Torschüssen, die seit Jahren keinem Klub mehr gegen City gelang.
Überhaupt legt Villa unter Emery eine Offensivkraft an den Tag, mit der Spektakel garantiert ist. Der 53-jährige Baske ist spätestens seit seiner Zeit beim FC Sevilla, den er zwischen 2014 und 2016 zu drei Europa-League-Triumphen in Folge führte, als detailversessener Tüftler bekannt. Angeblich verbringt er 12 Stunden täglich auf dem Trainingsgelände und überlässt nichts dem Zufall. So hat er Spieler wie den schottischen Captain John McGinn, den Brasilianer Douglas Luiz oder Stürmer Ollie Watkins, die seit Jahren im Verein sind, in kurzer Zeit auf ein neues Niveau gehoben. Dazu wurden im Sommer Sofortverstärkungen geholt wie die Nationalspieler Pau Torres (Spanien), Moussa Diaby (Frankreich), Nicolo Zaniolo (Italien) oder Youri Tielemans (Belgien). Dass Aston Villa so zu einem ernsten Rivalen gereift ist, haben auch City-Coach Pep Guardiola und Arsenal-Trainer Mikel Arteta nach ihren Niederlagen öffentlich anerkannt.
Favorit gegen Aussenseiter
Ob Dean immer noch regelmässig im Stadion die Geschicke des Klubs verfolgt, weiss ich nicht. Wir haben schon seit Jahren keinen Kontakt mehr. Aber den Titelgewinn würde ich den «Claret and Blue» in jedem Fall gönnen. Nicht nur der guten alten Zeiten wegen, sondern weil man im Sport ja oft dem Aussenseiter die Daumen drückt. Bei der Darts-WM hat sich gestern der Favorit Humphries durchgesetzt, so blieb Wunderkind Littler die Krönung letztlich verwehrt. Ob die Villans derweil ihr Märchen zu Ende schreiben, dürfte dem jugendlichen Vizeweltmeister egal sein – er ist nämlich Fan von Manchester United, und dort ist der Zug im Titelrennen diese Saison längst abgefahren.