Es sind traurige Zeilen, die eine Mutter am 30. April 1999 an den Zürcher Regierungsrat niederschreibt: «Erst 13 Jahre ist es her, dass mein Mann ermordet wurde. Eine schwere Zeit.» Täglich werde sie an den Verlust erinnert – «sei es durch die Bemerkungen von Passanten oder den generellen Zustand des Alleinseins, wenn man seinen Mann durch eine solche Gewalttat verliert.»
Damals geht das Gerücht um, der Mörder ihres Gatten käme bald frei und erhalte eine neue Identität: «Wo bleibt da die Moral, wo die Ethik?», fragt die Unglückliche. «Wer kommt für diese Kosten auf? Sie, mein Sohn und ich als Steuerzahler? Ist diese Massnahme wirklich zu verantworten?»
Gesetzestreu, aber ohne Reue
Der Verbrecher ist einer der schillerndsten der Schweizer Justizgeschichte: Günther Tschanun. Als Chef der Zürcher Baupolizei erschoss er 1986 vier Mitarbeiter und verletzte einen fünften schwer. Im Jahr 2000 war er, nach zwei Dritteln seiner Haftstrafe, ordnungsgemäss auf freien Fuss gesetzt worden. Die folgenden zwei Jahrzehnte blieb er für die Öffentlichkeit ein Phantom, sein Name wurde zum Symbol für die Abgründe, die hinter einer Spiesser-Fassade verborgen liegen können.
Vergangene Woche brachte Tamedia-Journalistin Michèle Binswanger mit ihren Enthüllungen Licht ins Dunkel: 2015 verstarb Tschanun 73-Jährig bei einem Velounfall in seinem Tessiner Rückzugsort Losone, wo er unter dem neuen Namen Claudio Trentinaglia lebte. Akten des Zürcher Amts für Justizvollzug zeigen, wie Tschanun die letzten 15 Jahre in Freiheit lebte: durchaus bescheiden, gesetzestreu und zu einem gewissen Grade resozialisiert, ganz im Sinne des Schweizer Rechtssystems. Aber auch ohne Reue, unwillig zur Therapie – und in immer absurdere Opferfantasien versunken.
«Keine Hilfe in Bezug auf die Trauerarbeit»
Die Dokumente, in die SonntagsBlick Einsicht hatte, verraten auch, wie schwierig die Situation der Hinterbliebenen war. Tschanun wurde zum Vorbild für Filme und Bücher, Kulturschaffende kümmerten sich um ihn, Journalisten suchten in persönlichen Briefen seinen Kontakt. Die Angehörigen der Ermordeten hingegen fühlten sich vergessen – trotz des 1993 eingeführten Opferhilfegesetzes, das ihre Unterstützung regelt. Dazu kam ein schlimmer Fehler bei der Postzustellung, wodurch zwei betroffene Familien aus der Presse von Tschanuns Freilassung erfahren mussten.
Nicht nur die erwähnte Witwe hatte sich verzweifelt an die Behörden gewandt. Der Vater eines weiteren Toten schrieb am 12. Januar 2000, kurz vor Tschanuns Entlassung, dem Leiter des Zürcher Amts für Justizvollzug: «Ich habe bis heute weder von der Stadt Zürich noch von der Justiz des Kantons Zürich nur den winzigsten Teil einer Anteilnahme erfahren. Genugtuung ist mir seitens der Stadt und des Kantons bis anhin nicht widerfahren.» Es gebe «keine Hilfeleistung in Bezug auf die Trauerarbeit», moniert er, «eine Hilfeleistung, die sicher alle Betroffenen bitter nötig haben».
Er verglich sich auch mit Wachmann Meili
In krassem Gegensatz dazu steht das Selbstbild des Vierfachmörders. Seine Lebenslüge, ein Opfer von Justiz, Medien und Wirtschaft zu sein, nahm mit den Jahren aberwitzige Züge an. Schon 1991, noch im Gefängnis, schreibt er in einer Interviewabsage an einen Journalisten: «Unermüdlich schieben sich Bilder zwischen Ihren Brief und mich. Bilder aus dem Film ‹Die verlorene Ehre der Katharina Blum› ...» Der gleichnamige Roman von Heinrich Böll handelt von einer Frau, die von zynischen Reportern in die Enge getrieben wird, bis sie einen von ihnen tötet.
1997 vergleicht Tschanun seine Situation mit der des Whistleblowers Christoph Meili, der die Affäre um die nachrichtenlosen Vermögen ins Rollen gebracht hatte: «Die Presse steht in einem knallharten Verdrängungswettbewerb. Ethik ist in der Marktwirtschaft ein systemfremder Begriff. Herr Christof Meili, Wachmann, wurde hier als Verräter und Krimineller, in den USA als Held, so durch die Presse gezogen, dass er in der Schweiz nicht mehr leben konnte.»
Den Gipfel dieser Selbstwahrnehmung offenbart ein Brief vom 6. Januar 2013 an seinen neuen Bewährungshelfer. Friedensnobelpreisträger sind Tschanun als Referenz gerade gut genug: «Mir ist durchaus klar, dass jede Bewertung / Beurteilung / Kritik / Anerkennung … immer eine Frage der Perspektive ist (wie unterschiedlich werden doch z. B. die Männer Obama, Mandela, Dalai Lama … durch die verschiedenen Brillen gesehen).»
Rollenspiele gegen Ausraster
Der Hass auf die vierte Gewalt durchzieht die Vita des Gewalttäters. Am 21. Mai 2008 deutet ein Sozialarbeiter per Aktennotiz eine Drohung gegen die Medien an. Weil die Presse für ihn «eine massive Form von Gewalt» sei, resümiert der Fachmann aus einem Gespräch mit Tschanun, sei für Tschanun «immer noch eine sehr ernsthafte Option, in den Rachen der Gewalt zu gehen (konkret nach Zürich) – dann ergebe sich halt, was sich ergeben werde, die Medien müssten dann weiterschauen…».
Die Betreuer erkannten Handlungsbedarf: Sein Bewährungshelfer mimte in einem Rollenspiel einmal den fragenden Reporter, Tschanun musste die «Attacken parieren» – üben, um im Ernstfall Schlimmeres zu verhindern.
Medienverlag spendete für den Medienhasser
Kurz nach seiner Entlassung 2001 – das IV-Gesuch war noch hängig – stand Tschanun mittellos da. Er brauchte Geld für Kleidung und ein Studio, aber auch für eine unvorhergesehene Zahnarztrechnung von 3365 Franken. Also starteten die Justizbeamten ein Fundraising bei namhaften karitativen Stiftungen – natürlich für Claudio Trentinaglia, nicht für Günther Tschanun. Die Wohltäter erfuhren nicht, für wessen Wiedereingliederung sie tatsächlich Geld spendeten.
Zu den Gönnern – sie reichten von der Stiftung der Gottfried-Keller-Loge (1500 Franken) bis zur Huber-Graf- und Billeter-Graf-Stiftung (1500 Franken) – gehörte auch die Zeitschrift «Beobachter». Aus der Stiftung SOS Beobachter machte der damalige Besitzer, der Jean-Frey-Verlag, 1500 Franken für Signor Trentinaglia locker. So wurde Medienhasser Tschanun – ausgerechnet – Nutzniesser eines spendablen Medienhauses.
Der Vater eines Opfers schilderte seine Lage folgendermassen: Ihm sei bewusst geworden, schrieb er im Jahr 2000, «wie hilflos, ja ohnmächtig diese Tat immer noch macht und weiterhin wird».