Das Entsetzen ist auch hinter dem Mundschutz zu erkennen. Die betagte Nachbarin zeigt aus dem Fenster auf den Hang von Ronco sopra Ascona TI. Dort, in der modernen Villa mit Panoramablick über den Lago Maggiore, habe Claudio Trentinaglia im Jahr 2000 eine kleine Wohnung bezogen.
Sie habe schon damals ein komisches Gefühl gehabt. «Irgendwie war mir dieser Mann unsympathisch», sagt die Tessinerin zu Blick. Doch dass der Claudio von nebenan in Wirklichkeit Günther Tschanun (†73) hiess und ein verurteilter Vierfachmörder war, das habe sie frisch aus den Medien erfahren. Ein Schock.
Die Nachbarin will anonym bleiben. Sie ist misstrauisch. Besonders jetzt, da das heimliche Leben und der Tod eines der schlimmsten Killer der Schweizer Kriminalgeschichte in der «SonntagsZeitung» aufgedeckt wurden (Blick berichtete).
Ein neues Leben im Tessin
Günther Tschanun tötet am 16. April 1986 im Zürcher Amtshaus IV vier Mitarbeiter mit Kopfschüssen. Einen weiteren Kollegen verletzt er schwer. Nach drei Wochen Flucht wird der Ex-Chef der Zürcher Baupolizei in Frankreich gefasst. Er wird 1988 zunächst zu 17 Jahren und 1990 vom Bundesgericht zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt. 2000 wird er aber wegen «guter Führung» vorzeitig entlassen.
Tschanun erhält einen neuen Namen und beginnt im Tessin ein neues, heimliches Leben. Seine jahrelange Freundin Clara F.* (76) hilft ihm dabei. Er zieht zu ihr nach Ronco s. Ascona TI – später nach Losone TI.
Verhängnisvoller Velosturz
Am 25. Februar 2015 gegen 17.20 Uhr stürzt Tschanun alias Claudio Trentinaglia mit dem Velo die Böschung zum Fluss Maggia hinunter – nur 400 Meter von seinem letzten Wohnsitz entfernt. Er trägt keinen Helm und schlägt mit dem Kopf auf. Tschanun stirbt noch vor Ort – und wird auch inkognito beerdigt.
«Claudio hatte einen italienischen Namen. Doch sein Italienisch war brüchig», sagt die alte Nachbarin aus Ronco weiter. Und, ja: «Er lebte bei Clara und arbeitete viel in ihrem Garten.» Auf die Frage, ob er denn italienischer oder Tessiner Herkunft sei, habe Clara F. behauptet, Claudio sei ohne Eltern aufgewachsen und wisse daher nicht, wo er herkomme. Eine Lüge, die seine dunkle Vergangenheit vertuschen sollte.
Wirtin wusste nichts von der kriminellen Vergangenheit
«Da lebt ein verurteilter Mörder in unserem kleinen Ort», sagt Sandra Palmieri (69), Wirtin der Dorfbeiz Pinocchio, «und niemand ahnte etwas davon. Die Nachricht sorgt bei mir für Gänsehaut.»
Freundlich sei der Claudio gewesen, erinnert sich Paolo Senn (56), der Sindaco von Ronco. «Er war zeitweise als Hüttenwart auf der Capanna al Legn oberhalb von Brissago TI tätig. Wovon er aber lebte, weiss ich nicht», sagt Senn weiter. Er erinnert sich: «Ich sah ihn und seine Freundin zuletzt beim Seniorenessen der Gemeinde im Februar 2007.»
Im gleichen Jahr verkauft Clara F. die Villa in Ronco und zieht in die Region Solothurn. Sie erwirbt in Losone eine 2½-Zimmer-Wohnung. Tschanun zieht dort ein. Clara F. kommt ihn fortan immer mal wieder besuchen.
Wein, Wandern, Velo
«Claudio stellte sich bei uns vor», erinnert sich Nachbar Stefan Nowaczyk (41). «Ab und an stand er mit einer Flasche Merlot vor unserer Tür. Wir haben im Garten grilliert und Rotwein getrunken», so Nowaczyk weiter. Der Vierfachmörder sei ein geselliger Mensch gewesen – ein bäriger Typ mit guter Laune. «Er lebte alleine», erinnert sich der Koch und fügt an: «Er wanderte gern, machte Nordic Walking und fuhr viel mit dem Velo.»
Die Spur von Tschanun führte nach der Haftentlassung auch in den Kanton Solothurn. Dort habe er laut Nachbarn immer wieder seine Lebenspartnerin Clara F. besucht. «Vor etwa neun Jahren habe ich ihr die 4½-Zimmer-Wohnung abgekauft», sagt die jetzige Besitzerin zu Blick. «Clara ist dann weiter in den Kanton Luzern gezügelt.» Sie habe nicht geahnt, dass deren Freund der Vierfachmörder Günther Tschanun war: «Jetzt, da ich das höre, schüttelt es mich direkt!» Die beiden seien als Paar immer sehr nett gewesen.
Das bestätigt auch Madeleine K.** (70), eine frühere Nachbarin von Clara F. Freund Claudio sei sehr zuvorkommend und hilfsbereit gewesen. Sie habe heute noch Kontakt zur damaligen Lebenspartnerin. Clara F. rede nicht gern über die Zeit von damals. Aber: «Ich denke, sie hat sicher auch darunter gelitten.» Clara F. wollte gegenüber Blick keine Stellung nehmen.
*Name geändert
**Name bekannt