Vierfachmörder Günther Tschanun (†73) lebt 15 Jahre lang im Schatten der Öffentlichkeit. Unter dem Namen Claudio Trentinaglia wohnt er in Ronco s. Ascona TI und Losone. Er macht Yoga-Kurse, hilft den Nachbarn im Garten, arbeitet zwischenzeitlich in einer Alphütte. Sein altes Leben, seine Taten will er hinter sich lassen – eigentlich. Doch eines Tages verliert er die Fassung. Und will Rache üben.
Notizen und Dokumente, die der Tages Anzeiger publizierte, zeigen: Ein Filmprojekt des Berner Filmemacher Cihan Inann zur Tat Tschanuns bringt den Killer an seine Grenzen. Im Frühjahr 2008 erfährt Tschanun erstmals von der geplanten Verfilmung. Arbeitstitel des Regisseurs: «Amok». Er will neben der Tat auch das Klima der 80er-Jahre abbilden.
«Was, wenn er Regisseur oder Presse aufsucht?”
Am Morgen des 16. April 1986 tötete Günther Tschanun, Chef der Baupolizei der Stadt Zürich, vier Mitarbeiter. Er schoss ihnen mit einem Revolver in den Kopf. Das Gericht verurteilte ihn zu 20 Jahren Haft. Wegen guter Führung kommt er im Jahr 2000 frei – und erhält eine neue Identität.
Jahre danach wirft die Nachricht über das bevorstehende Filmprojekt Tschanun aus der Bahn. Seine Bewährungshelferin notiert, er sei nervös, spreche gar von einem «Worst Case». Der Killer befürchtet eine «reisserische Geschichte» über seine Tat. Derweil fliessen immer mehr Gelder in das Projekt. Die Zürcher Filmstiftung spricht knapp eine halbe Million Franken.
Nun macht man sich auch beim Amt für Justizvollzug Sorgen. Tschanun sehe sich als Opfer, betrachte es als Frechheit und Zumutung, dass seine Tat thematisiert wird, obwohl er seine Strafe verbüsst habe, notiert seine Bewährungshelferin. Sie schlägt bei den Behörden Alarm: «Was, wenn er in einem akuten Moment Regisseur/Presse aufsucht und diese ihn nicht gemäss seinen Erwartungen und Vorstellungen behandeln? Wenn er daraufhin jemanden verletzt, schlimmstenfalls erschiesst?»
Urbaniok: Rückfall-Risiko ist real
Die Situation spitzt sich zu. Tschanun wird immer konkreter. In einem Gespräch sagt er seiner Bewährungshelferin, er wolle nach Zürich zum Ringier-Verlag, zu dem auch der Blick gehört. Verzweifelt wendet sie sich an Psychiater Frank Urbaniok. Er pflichtet ihr bei, das Risiko eines Rückfalls sei nun real. Tschanun habe nach wie vor eine hoch gestörte Persönlichkeit. Da könnten Rachegedanken Überhand nehmen.
Die Behörden wissen nicht mehr weiter. Die Bewährungshelferin und ein Kollege versuchen, an das Drehbuch des Films zu kommen. Sie wollen auf die Produktion einwirken – ohne Erfolg.
Im Sommer 2008 schlägt sie Tschanun vor, ihn für die Zeit während der Dreharbeiten und zum Start des Films ins Ausland zu schicken. Er könnte sechs Monate in der Nähe von Rom verbringen, dort vielleicht einen Sprachkurs besuchen. Oder er könne bleiben und mit seinem Scooter nach Como fliehen, sollte die Presse bei ihm auftauchen.
500 Franken für Reise nach Como
Letzterer Lösung nehmen sich auch die Vollzugsdienste an. Seine Bewährungshelferin schickt Tschanun 500 Franken, mit der Nachricht, damit solle er im Notfall nach Como fahren. Beleidigt und gekränkt schickt der Vierfachmörder das Geld zurück. Seine Bewährungshelferin schlägt eine Therapie vor.
Schliesslich erhält das Amt für Justizvollzug im Frühjahr 2009 das Drehbuch. Ein Mitarbeiter des Bewährungsdienstes notiert, was den Behörden «Bauchweh» bereite: Der Autor geht mit dem Begriff Amoklauf äusserst reisserisch um. Das Signalement des Mannes, der seine Mitarbeiter tötet (Haar, Gestalt, Brille), die Pathologisierung des Mannes, der seine Mitarbeiter tötet (Schwitzen, Unfähigkeit zum Loslassen, labile Persönlichkeit), Beurteilung seiner Tat (drückt kaltblütig ab), Beschreibung von GT in der Toilette der Raststätte (Spiegelbild eines Monsters).»
Allgemein jedoch ist der Film nicht zum Nachteil Tschanuns. Dieser verzichtet schliesslich auf seine Rache. Und führt sein Leben im Tessin wie gewohnt weiter. Bis zu seinem Unfalltod 2015 bleibt er im Schatten der Öffentlichkeit. (hah)