Es ist ein Paradies auf 1802 Höhenmetern. Von der Capanna Al Legn aus überblickt im Sommer 2004 Günther Tschanun (†73) den Lago Maggiore. Zwei Wochen wird er als Claudio Trentinaglia die Hütte führen. Er hält sein Gesicht in die Sonne, atmet tief die frische Bergluft ein. Die reale Welt scheint fern, die Sorgen klein. Und seine Schuld?
Am 16. April 1986 hatte der damalige Leiter der Zürcher Baupolizei vier Kollegen mit Kopfschüssen hingerichtet. Er wurde verurteilt und nach 14 Jahren Knast wegen guter Führung aus der Haft entlassen. Hat er die Bluttat vor Augen beim Blick über den See? Lässt er die Seele baumeln, als sei nie etwas geschehen?
Hüttenwart «Claudio» kochte sogar Tessiner Gerichte
Gianfranco Zanini (65) lernt Claudio Trentinaglia als Hüttenwart kennen. «Ich weiss nicht mehr, wie er an den ehrenamtlichen Job kam und wie oft er oben war», sagt der Ex-Präsident der «Amici della Montagna» (dt. «Freunde des Berges»), die die Capanna Al Legn oberhalb von Brissago TI betreiben. Claudio Trentinaglia habe seinen Job gut gemacht. Das wisse er noch genau.
Ein exquisiter Mensch, so beschreibt der Tessiner «den Claudio». Freundlich, zuverlässig und kultiviert sei der Deutschschweizer gewesen. «Er hat auf der Hütte geputzt, Reservierungen telefonisch entgegengenommen und gut gekocht», sagt Zanini. «Sogar traditionelle Tessiner Gerichte!»
Eine Flasche Rotwein zum Dank für den Hüttendienst
Ob Tessiner, Deutschschweizer, Welsche oder Touristen aus dem Ausland: Die Wanderer mochten Claudio. «Das zeigt sich in den vielen positiven Eintragungen ins Gästebuch», sagt Gianfranco Zanini. «Als Dank gab es eine Flasche Rotwein oder ein Abendessen. Als wir von seinem Unfall mit dem Velo erfuhren, hat das Komitee in einer kleinen Feier des Toten gedacht.»
Am Sonntag erfuhr Gianfranco Zanini von der wahren Identität seines Freundes. «Er hat doch seine Strafe abgesessen. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.»