Vierfachmörder Günther Tschanun (†73) lebte nach seiner Haftentlassung im Jahr 2000 ein beschauliches Leben im Kanton Tessin (Blick berichtete). Dass er seinen Lebensabend unerkannt verbringen konnte, ist der Hilfe der Behörden zu verdanken: Er durfte sich einen neuen Namen aussuchen, nannte sich fortan Claudio Trentinaglia, nach einem Grossonkel. Und: Tschanun bekam eine Invalidenrente mit Ergänzungsleistungen überwiesen, wie der «Tages-Anzeiger» berichtet.
Er genoss dabei eine Sonderbehandlung: Ausgezahlt wurde ihm das Geld mit Umweg über den Kanton Appenzell Ausserrhoden, um die neue Identität des entlassenen Häftlings zu schützen. Ab dem Jahr 2002 konnte er so mit 2500 Franken pro Monat leben.
Wie kam es zu den Inkognito-Zahlungen?
Wie es zu den Appenzeller Inkognito-Zahlungen kam, wollen die Verantwortlichen bei den Sozialversicherungen Appenzell Ausserrhoden mit Verweis auf die Schweigepflicht nicht sagen. Offen bleibt so auch die Frage, wer für den Mörder aufkommen musste. Auch die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich hüllte sich gestern in Schweigen.
Den genauen Grund für die Invalidenrente kennt man auch bei der Zürcher Direktion der Justiz und des Innern nicht. Sie schreibt aber allgemein, «dass er zum Zeitpunkt der bedingten Entlassung bereits im 60. Lebensjahr stand».
Dass Tschanun überhaupt eine Invalidenrente bekam, verdankt er seiner damaligen Bewährungshelferin. Wie schon hinter Gittern hat der Mörder auch nach der Entlassung grosse Mühe, seine Schuld richtig anzuerkennen. Tschanun weigerte sich auch, seine Beeinträchtigung gegenüber der IV «anmeldekonformer» einzugestehen, zitiert der «Tages-Anzeiger» die damalige Bewährungshelferin.
Wohngemeinde wusste nichts von Tschanun
Die Frau argumentiert: Genau diese Unfähigkeit, seine Beeinträchtigung anzuerkennen, sei Ausdruck der Störung. Die Argumentation greift – und Tschanun verbringt seine Zeit fortan im Kanton Tessin mit Gärtnerarbeiten und Yoga-Kursen auf dem Monte Verità.
Ob die Rente wie üblich regelmässig überprüft wurde, ist unklar. Tschanun meldete sich nach seiner Haftentlassung erst 2005 bei der Gemeinde Ronco s. Ascona TI an, wo er fortan offiziell unter seinem Decknamen lebte. Nicht einmal bei der Gemeindeverwaltung wusste man um seine wahre Identität, bestätigt Gemeindepräsident Paolo Senn Blick.
Dass die Behörden so stark auf Tschanun eingingen, stört die Angehörigen seiner Opfer. «Er hätte für immer eingesperrt gehört oder mit seinem richtigen Namen leben müssen. Dass ein Killer so geschützt wird, ist das Versagen der Schweizer Justiz», so Irina Beller (48) zu Blick. Ihr Mann Walter (†71) wurde 1986 Zeuge des Blutbades, litt sein Leben lang darunter.
«In der Schweiz werden 99 Prozent der Häftlinge wieder entlassen»
Barbara Rohner vom Schweizerischen Kompetenzzentrum für den Justizvollzug (SKJV) kennt sich mit den Fragen bei der Wiedereingliederung von Ex-Gefangenen aus. «Ich kann die Optik von Opferangehörigen und Bürgern nachvollziehen», sagt sie. Aber: «In der Schweiz werden 99 Prozent der Häftlinge wieder entlassen.» Entsprechend mache es Sinn, dass man in der Schweiz viele Ressourcen für die Wiedereingliederung verwendet. «Das ist auch sicherheitsrelevant», sagt sie.
Im Fall Tschanun seien anscheinend besondere Anstrengungen seitens der Behörden unternommen worden. «Das liegt wohl auch an der hohen
Medienaufmerksamkeit, die dazu geführt haben dürfte, dass die Resozialisierung nach der Haftentlassung in seinem Fall stark erschwert wurde.»
Was hingegen weniger aussergewöhnlich ist: «Dass verheiratete Leute wieder ihren ledigen Namen annehmen oder mit einer Heirat eine Namensänderung bewirken, kommt häufiger vor.»
Die Fachfrau gibt zu bedenken: «Die Strafe ist der Freiheitsentzug, und nichts anderes – dem darf nichts hinzugefügt werden.»