Auf dem Foto lächelt Günther Tschanun (†73) milde in die Kamera. Neben ihm strahlt seine Freundin Clara F.* (76). Die beiden geniessen das Seniorenessen der Gemeinde in Ronco sopra Ascona TI. Wie ein ganz normales Rentnerpaar.
Auch für Joris F.* (52), den Sohn von Clara F., war der Vierfachmörder einfach nur der Günther. Trotz seiner Vorgeschichte, trotz seines neuen Namens: Claudio Trentinaglia. Gegenüber Blick erinnert sich der Solothurner an den Freund seiner Mutter – und an gemeinsame Stunden im Tessin. Joris F. macht sich einen Kaffee, setzt sich an den Esstisch und erzählt. Er möchte dennoch nicht mit richtigem Namen genannt werden, genau wie seine Mutter.
Es geschah in den 80ern
Als ihr Sohn noch ein Teenager ist, lernt Clara F. den späteren Vierfachmörder beim Tanzen kennen: «Es war in den 80er-Jahren. Er war ein guter Latino-Tänzer, und auch meine Mutter konnte gut tanzen.» Die beiden seien daraufhin ein Paar geworden – für Clara F. ist ihr Ehemann zu diesem Zeitpunkt kein Thema mehr. «Ich weiss das Jahr nicht mehr, aber es war definitiv vor der Tat in Zürich.»
Am 16. April 1986 hatte Tschanun dort im Amtshaus IV vier seiner Mitarbeiter erschossen. Der damalige Chef der Baupolizei flüchtete nach der Tat ins Burgund – und flog dort wegen seiner Liebe auf. Denn: Dass Tschanun sich in Frankreich versteckte, habe Clara F. gewusst. Der Sohn bestätigt: «Meine Mutter hat sich dann mit ihm besprochen und der Polizei schliesslich den Tipp gegeben, wo genau er sich aufhält», so Joris F.
Hälfte der Belohnung geht an Tschanuns Freundin
Aus Liebe und aus Sorge, denn Tschanun soll von Selbstmord geredet haben. Drei Wochen nach der Tat wird er verhaftet. Damals waren 10'000 Franken Belohnung ausgeschrieben – eine stolze Summe, die zur Hälfte sogar direkt bei Clara F. landet. Die andere Hälfte erhält eine französische Wirtin. «Meine Mutter hat die Belohnung erhalten und die Hälfte des Geldes den Angehörigen der Opfer gegeben», so Joris F.
1988 wird Tschanun der Prozess gemacht. Zunächst kassiert er 17 Jahre. Das Bundesgericht verschärft die Strafe 1990 zu 20 Jahren Zuchthaus.
Besuche im Knast, Verständnis für die Schüsse
Sicher ist: Clara F. und Tschanun haben auch während des jahrelangen Gefängnisaufenthalts regen Kontakt. «Sie hat ihn oft besucht», sagt Joris F. «Meine Mutter war ja die einzige Bezugsperson, die er noch hatte.» Es sei für die ganze Familie eine schwierige Situation gewesen: «Wir hatten ja keine Erfahrung mit Kriminalität.» Aber sie hätten gewusst, dass sie weiterhin zu ihm stehen würden. «Die Frage hat sich gar nicht gestellt, er war einfach da.»
Auch die Tat an sich will Joris F. nicht gänzlich verurteilen. Er spricht von «Mobbing» und einer «Kurzschlusshandlung». Der Sohn meint: «Günther kam in einen Zustand, in dem er die Kontrolle verlor und austickte.» Aber klar: «Die Tat selbst war schon seine Schuld.»
Das Versteck ist organisiert
2000 kommt Tschanun dank «guter Führung» frei – sein neues Leben ist da bereits organisiert. Als Claudio Trentinaglia zieht es den Vierfachmörder ins Tessin – in die moderne Villa von Clara F. am Lago Maggiore, die sie von ihrem Vater vererbt bekommen hatte. Joris F. dazu: «Er hatte ja kein Geld und konnte mit seinem richtigen Namen nicht mehr weiterleben.»
Offenbar habe ihm der Kanton Zürich den neuen Namen besorgt: «Es war wohl eine Art Zeugenschutzprogramm.» Den Vornamen Claudio habe sich der Freund seiner Mutter selbst ausgesucht. Die mangelhaften Italienisch-Kenntnisse erklärt man vor Ort damit, dass der Neuankömmling ein Waisenkind sei und eigentlich gar nicht wisse, wo er herkomme.
Kleine Aufträge als Gärtner
Als Claudio Trentinaglia lebt er von einer kleinen IV-Rente. Joris F.: «Er profitierte jedoch davon, dass er im Gefängnis eine Lehre als Gärtner machen konnte, und hatte kleinere Aufträge.» Er und seine Frau hätten ihn meist im Tessin besucht – und einen freundlichen und korrekten Mann erlebt, der ständig im Garten war.
Im Februar 2015 endet das Versteckspiel mit einem Velounfall, wie die «SonntagsZeitung» berichtete. Kurz vor seiner letzten Bleibe in Losone TI stürzt der Vierfachmörder einen Fels hinunter. Jede Hilfe kommt zu spät.
Für Joris F. passt der tragische Tod zum Leben des Verstorbenen: «Das, was er damals getan hatte, war absurd. Also musste logischerweise auch sein eigener Tod absurd werden.»
* Namen geändert