Nun ist sie mit Händen greifbar, die Angst vor einer Stromlücke. Besonders die Industrie bibbert und fordert immer lauter griffigere Massnahmen für den Fall eines Blackouts.
Zumindest das finanzielle Blackout scheint für eine Vielzahl von Unternehmen schon heute unvermeidbar: für jene knapp 24'000 Firmen, die ihren Strom am freien Markt beziehen und sich den Preisexplosionen um das Zehn- bis 15-Fache nicht entziehen können. Sie können die horrenden Energiekosten kaum mehr auf ihre Produkte abwälzen, ohne an Wettbewerbsfähigkeit einzubüssen. Einige stehen vor dem Aus.
Konkrete Massnahmen müssen nun auf den Tisch, und zwar subito, fordert die Industrie.
Am Mittwoch traten Wirtschaftsminister Guy Parmelin (62, SVP) und Energieministerin Simonetta Sommaruga (62, SP) vor die Medien und umrissen Teile ihres Notfallplans, der in den Augen der Wirtschaft jedoch die gebotene Dringlichkeit vermissen lässt. So sollen Bund, Wirtschaft und Private im kommenden Winter 15 Prozent weniger Gas verbrauchen, um einer Mangellage vorzubeugen. In freiwilliger Eigenverantwortung. Falls das nicht reicht, werden Verbrauchsverbote ausgesprochen. (Das wäre allerdings erst möglich, wenn der Bund offiziell die Mangellage ausruft.) Aber vorerst heisst es: «Selbstdisziplin und Genügsamkeit», wie Parmelin vor den Medien betonte.
Wer kriegt Strom
Konkrete Massnahmen will der Bundesrat erst in den kommenden Wochen präsentieren. Vor allem die knifflige Frage, wo bei einer allfälligen Rationierung überhaupt noch Strom fliesst, soll geklärt werden. Und ob und wie die Industrie bei Produktionsausfällen entschädigt werden soll.
Viele Firmen – darunter die Energieversorger selbst – kritisieren derweil, sie wüssten nicht, wann in einer Mangellage für wen welche Einschränkungen gelten. «Es ist nicht unsere Absicht, die Unternehmen im Dunkeln zu lassen», kontert Parmelin die Kritik gegenüber SonntagsBlick. In groben Zügen sei bekannt, welche Massnahmen vorgesehen sind.
Am kommenden Mittwoch wird der Bundesrat die Massnahmen im Gasbereich in Konsultation geben. «Wann diese Verordnungen in Kraft treten, hängt von der Krise ab. Ich hoffe, dass wir sie nie brauchen», betont der Wirtschaftsminister. Die vorgeschlagenen Massnahmen im Strombereich sollen bald folgen.
Am Freitag erhöhte Economiesuisse schon einmal den Druck auf die Landesregierung. Der Wirtschaftsdachverband publizierte einen Forderungskatalog, der sich wie ein unternehmerischer Hilfeschrei während der Pandemie liest. Staatshilfe ahoi!
Im Kern fordert Economiesuisse den unkomplizierten Zugang zu Kurzarbeit für Unternehmen. Es sei davon auszugehen, dass gewisse Firmen aufgrund der rapide steigenden Energiepreise ihre Produktion aussetzen müssen. Zudem soll der Bund Überbrückungskredite für Unternehmen leisten, die in Liquiditätsengpässe geraten.
Bewährtes aus der letzten Krise
Den Forderungen des Wirtschaftsdachverbandes scheint Parmelin nicht abgeneigt. Er sagt: «Die Kurzarbeit hat uns durch viele Krisen begleitet und steht auch für die nächsten Krisen bereit.» Die Arbeitsgruppe des Bundes, die zur Behandlung dieser Fragen eingesetzt wurde, führe ein ständiges Monitoring der Situation durch und prüfe Optionen für den Fall, dass Handlungsbedarf bestehe. «Der Bundesrat wird sich in seinen nächsten Sitzungen erneut mit diesem Thema befassen», verspricht Parmelin.
Für die Interessengemeinschaft Energieintensive Branchen (IGEB) ist das nicht genug. Präsident Frank Ruepp (58) for-dert überdies «eine Flexibilisierung des Arbeitsrechts, da allenfalls in anderen Arbeits- und Schichtmodellen gearbeitet werden muss», wie er zu SonntagsBlick sagt. Die IGEB vertritt unter anderem die Interessen der Giessereien und Papierhersteller.
Zudem fordert Ruepp, die Luftreinhalteverordnung temporär aufzuweichen, «da bei einer Umstellung von Gas auf Öl die Reduktionsziele beim CO2-Ausstoss nicht mehr erreicht werden und dies zu erheblichen Mehrkosten führt». Vor allem aber sollen Grossverbraucher entschädigt werden, wenn sie ihren Stromverbrauch drosseln. Im Weiteren sollen die Unternehmen die Möglichkeit erhalten, ihre Kontingente auf einer privaten Handelsplattform zu teilen. Ruepp: «Dazu gehört, dass Unternehmen die Kontingente überregional und in unterschiedlichen Netzgebieten handeln können. Bisher fehlen dazu aber klare Rahmenbedingungen.» Auch das soll die Landesregierung so schnell wie möglich klären.
Zurückhaltend mit Forderungen sind die Lebensmittelkonzerne. Migros-Sprecher Tristan Cerf sagt aber klar: «Dem Bund ist die besondere Rolle der Migros bezüglich Landesversorgung bewusst.» Auch Coop hält sich bedeckt: Man stehe mit den Bundesbehörden in regem Austausch, sagt Sprecherin Melanie Grüter. «Wir haben Vorschläge zur Schaffung von Grundlagen gemacht, um auch unter solchen herausfordernden Bedingungen unseren Versorgungsauftrag erfüllen zu können.»
Zu den Details wollen sich beide Grossisten nicht äussern.